Mathias Énard: "Kompass"

Sehnsucht nach dem Orient

Der französische Autor Mathias Énard bei einer Pressekonferenz.
Der französische Autor Mathias Énard hat den bedeutendsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt, gewonnen. © afp / Thomas Samson
Von Dirk Fuhrig · 23.08.2016
Der Roman "Boussole" ist ein Bestseller in Frankreich. Sein Autor Mathias Énard erzählt von der Leidenschaft der Europäer für das Morgenland − und eine unerfüllte Liebesgeschichte. Auch die deutsche Übersetzung "Kompass" ist mitreißend.
"Kompass" ist ein Roman über die Faszination der Europäer für die Kulturen der arabischen Welt. Mathias Énard, der für dieses Buch den begehrten "Prix Goncourt" erhalten hat, greift tief in die Geschichte der Orientbegeisterung zurück. Er zeigt, wie fruchtbar die Begegnung von Forschern und Reisenden aus dem Westen mit Menschen, Landschaften und Kulturen in Ländern wie der Türkei, dem Iran oder Syrien seit vielen Jahrhunderten gewesen ist. Die arabischen und osmanischen Hochkulturen haben, so stellt es das Buch heraus, die Entwicklung von Kultur und Wissenschaft nördlich des Mittelmeers immer wieder befördert.
Der Roman verknüpft die Leidenschaft von Literaten, Philosophen und Künstlern aus dem Abend- für das Morgenland mit der Liebe des eigenbrötlerischen Wiener Musik- und Orientwissenschaftlers Franz Ritter zu der brillanten französischen Wissenschaftlerin Sarah. Im Laufe einer schlaflosen Nacht rekapituliert Franz sein unerfüllt gebliebenes Begehren und die gemeinsame Zeit mit ihr in arabischen Ländern. Er liest alte E-Mails von Sarah, die ihre Forschungen erst in Teheran, Beirut und Damaskus betrieb, immer weiter nach Osten reiste und schließlich in einem buddhistischen Kloster landete. Sarahs Orient-Sehnsucht ist, so wird allmählich deutlich, vor allem eine Suche nach Selbstverwirklichung, nach Erfüllung – nach einem "Kompass" im Leben.

Ägyptomanie und deutsche Denker

Der Autor entwirft in Ritters Reflektionen ein denkbar weites geistesgeschichtliches Panorama: Goethe, der sich für seinen "West-Östlichen Divan" von dem persischen Dichter Hafis hatte anregen lassen, taucht darin ebenso auf wie Mozart, der von der am Wiener Hof grassierenden "Ägyptomanie" zu seinem berühmten "Türkischen Marsch" inspiriert wurde, außerdem Victor Hugo, Arthur Rimbaud und viele andere.
Der umfangreiche Roman ist wegen seiner Fülle an historischen Details eine anspruchsvolle Lektüre. Durch seine mitreißende, manchmal süffisante und ironische Sprache – hervorragend übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller – gelingt es Mathias Énard jedoch, den Leser zu fesseln und in die entlegensten Winkel von Ritters Studierstube zu locken. Dass Dichter und Denker aus dem deutschsprachigen Raum in ihr eine so große Rolle spielen, ist kein Zufall: Mathias Énard hat längere Zeit in Berlin recherchiert.

Die Widmung lautet: "Für die Syrer"

"Kompass" führt uns auch in die Konfliktzonen unserer Tage, nach Aleppo, Raqqa und Palmyra. Allerdings in eine Zeit kurz vor den katastrophalen Zerstörungen des Syrienkriegs. Wer das Buch gelesen hat, weiß genauer, welch unschätzbare Beiträge etwa der Baaltempel oder das Tetrapylon in Palmyra für die Architektur in Paris, Wien oder Berlin geleistet haben und wie einflussreich die "Erzählungen aus 1001 Nacht" für die europäische Dichtkunst waren.
Énard beendet den Roman mit der Widmung "Für die Syrer". Wie wenige andere ruft sein Buch eine historische Dimension der west-östlichen Beziehungen in Erinnerung, die in den gegenwärtigen Diskussionen rund um den viel beschworenen "Kampf der Kulturen" allzusehr in Vergessenheit geraten ist. "Kompass", übervoll mit geistesgeschichtlichem Stoff, ist über weite Strecken fast ein historisches Werk. Die elegante Sprache und die geschickte Verknüpfung mit der Liebesaffäre zwischen Franz und Sarah machen daraus einen hochliterarischen, sehr zeitgenössischen und aktuellen Roman.

Mathias Énard: Kompass
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
432 Seiten, Hanser Berlin, 25 Euro

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