Mathematische Präzision und Ponyfransen

Von Vera Block · 01.11.2010
Polina Semionova würde sehr gerne Hip Hop tanzen können oder den Führerschein machen. Aber dafür hat die Startänzerin des Berliner Staatsballetts keine Zeit. Vor neun Jahren quasi von der Schulbank weg als erste Solotänzerin verpflichtet, hat sie sich an die Weltspitze des Balletts getanzt.
Polina Semionova hat ein Paar Pfunde zuviel. Besorgt ist sie deswegen nicht:

"Ich wiege etwa 51-52 Kilo. Im Sommer sind es ein-zwei Kilo mehr, im Winter verschwinden sie."

Halb zehn Uhr vormittags in einem der Übungssäle der Berliner Staatsoper. Polina Semionova sitzt im Spagat auf dem Boden und spannt ein Gymnastikgummiband hinter dem Rücken von einem Fuß zum anderen. Wie die meisten im Saal trägt die Tänzerin Zwiebellook: Jacke, T-Shirt, Hose, Leggings, Wadenwärmer. Eine Stunde später hat sie nur noch einen Body und Strümpfe an. Das tägliche Warm-up – Plies, Dehnungen, Drehungen, Arabesquen.

"Alle haben Fehler, ich natürlich auch. Ich arbeite hart daran, aber ich ziehe es vor, nicht darüber zu reden. Beim Training achte ich auf die Sauberkeit der Linien und der Technik."
Die schier mathematische Präzision ihres Tanzes hat Polina Semionova zum Star gemacht. Mit 16 gewann sie den Moskauer Ballettwettbewerb. Damals tanzte sie das fulminante Solo des schwarzen Schwans Odile in Tschaikowskis "Schwanensee". Jetzt, mit 26, tanzt Polina Semionova die Doppelrolle als Primaballerina des Berliner Staatsballetts.

"Ich mag die schwarze Odile lieber, sie entspricht mir eher als der weiße Schwan Odett. Ihre Sprunghaftigkeit - mal anlocken, mal abweisen - das gefällt mir!"
Polina kann kokett lachen. Kopf nach hinten, Augen funkeln. Sie hat riesige Augen, dunkelbraun. Wenn sie etwas nicht mag – eine Frage nach dem Privatleben, zum Beispiel - dann senkt sie die Stirn und die Ponyfransen fallen lotrecht vor's Gesicht. Wie Gitterstäbe. Polina Semionova weiß, was sie nicht will und was doch. Ihre Zielstrebigkeit und Hartnäckigkeit sind legendär. Polina fiel an der Moskauer Ballettakademie nicht besonders auf. Fleißig ja, durchaus talentiert. Aber zu groß, zu breite Schultern, zu gerade Beine, zu schmale Hüften. Ganz nett. Mehr nicht. Dass in der Absolventin sehr viel mehr steckt, hat als einer der ersten Vladimir Malakhov gemerkt, damals Ballettdirektor der Berliner Staatsoper.

"Malakhov traf ich zum ersten Mal an meinem 17. Geburtstag, am 13. September, an der Moskauer Ballettakademie. Er saß im Saal während einer Unterrichtsstunde. Es war ganz schön aufregend. Ich bemühte mich sehr, versuchte mich möglichst gut zu zeigen. Und ich bin ihm wohl aufgefallen."

Nach dem Training hat Polina Semionova wenig Zeit. Sie hat überhaupt kaum Zeit. Sie sei froh, abends die Mails zu schaffen.

"Ich würde so gerne meine Deutschkenntnisse verbessern, mal einen Sprachkurs machen. Ich würde so gerne die Führerscheinprüfung machen. Und noch so vieles – aber die Zeit reicht nicht."

Also nur ein Abstecher in die Kantine. Unterwegs grüßt und nickt sie links und rechts. In den Gängen ist es etwas eng. Das habe mit der Rekonstruktion der Staatsoper Unter den Linden zu tun, erklärt Polina.

"Ich bedauere es sehr, weil es mein erstes Theater ist. Hier hat meine Karriere begonnen. Auf keiner anderen Bühne der Welt habe ich mich so wie hier gefühlt. Schade, dass es sich ändern wird. Als ob etwas Verwandtes oder Heimisches weggerissen wird."

In ihrer Heimat Moskau soll es Wächter des klassischen Balletts geben, die Semionovas Tanzstil mittlerweile als westlich bezeichnen. Das ist dann wohl negativ gemeint. Polina trommelt mit den Fingerkuppen auf dem Tisch.

"Aber in der Seele bin ich russisch. Russische Seele ist sehr emotional, sehr verletzlich, sehr dünnhäutig. Und ein wenig verrückt."

Wenn Polina Semionova etwas Verrücktes macht, dann eben, weil es fürs Ballett nötig ist. Wie das Rauchen – der Altmeister Roland Petit wollte Carmen in seiner Choreografie unbedingt mit der Kippe im Mund haben – also hat Polina zum ersten Mal im Leben geraucht.

"Weil der Choreograf es so wollte, musste ich auch einatmen. Natürlich habe ich gehustet, aber nur bei den Proben. Das war nicht sonderlich angenehm. Allerdings im Vergleich zu den Knochenschmerzen ist es nix."

Polina kann sich noch sehr gut an ihre ersten schmerzhaften Ballett-Erfahrungen erinnern: die gequetschten Zehen vom Stehen auf den Spitzen.

"Noch bevor man uns in der Schule erlaubt hatte, uns auf die Pointen zu stellen, kraxelte ich zu Hause auf die Spitzen und tippelte durch die Wohnung. Und dann kann ich mich sehr gut an die abgeschabte Haut erinnern."

Heute werden Polinas Schuhe handgearbeitet. Sie passen perfekt. Aber das scheint der Ballerina nicht mal so wichtig.

"Es gibt ganz unterschiedliche Modelle – mit größerer oder kleinerer Standfläche an der Spitze. Natürlich ist eine Größere auch bequemer – aber ich mag nicht, wenn die Fußspitze zu klobig aussieht – weil dann dieser Fußabschluss, diese schmale Spitze verloren geht."

Im einem Jahr verbraucht Polina Semionova über einhundert Paar Ballettschuhe.

Service:
Zu sehen ist die Ballerina am 1., 4. und 7. November in "La Peri" in der Staatsoper Berlin im Schillertheater: Beginn 19:30 Uhr

Sie wird auch bei allen Vorstellungen von MALAKHOV & FRIENDS tanzen:
10.11. um 19:30 Uhr,
12.11. um 19:30 Uhr,
13.11. um 19:30 Uhr,
14.11. um 18:00 Uhr sowie
18.11. wieder um 19:30 Uhr
jeweils in der Deutschen Oper Berlin.

Anfang September ist bei Egmont VGS ein Buch über Polina Semionova erschienen: "Polina. Aus der Moskauer Vorstadt auf die großen Bühnen der Welt" von Gerhard Haase-Hindenberg.
Polina Seminova Primaballerina des Berliner Staatsballett
Polina Semionova verbraucht im Jahr über einhundert Paar Ballettschuhe.© Enrico Nawrath