Maryse Wolinski: "Schatz, ich geh zu Charlie!"

Offener Liebesbrief an ein Terror-Opfer

Feuerwehrleute und Polizisten vor der Redaktion der französischen Satirezeitschrift "Charlie Hebdo"
Feuerwehrleute und Polizisten vor der Redaktion der französischen Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" © AFP /Kenzo Tribouillard
Von Pieke Biermann · 07.01.2017
Der "Charlie Hebdo"-Zeichner Georges Wolinski starb vor zwei Jahre beim Anschlag auf das französische Satiremagazin. Seine Frau, die Bestsellerautorin Maryse Wolinski, hat den Verlust in ihrem Buch verarbeitet - in einer bewegenden Mischung aus offenem Liebesbrief und nüchterner Reportage.
Ein schmales Buch, ein unbekümmerter Titel, verliebte Post-Its auf dem Umschlag: "… seit 44 Jahren liebe ich dich, und es ist nicht zu Ende – G." Das kommt so idyllisch daher, dass bei Allround-Skeptikern alle Warnlämpchen blinken, auch wenn sie nicht schon wissen, was Maryse Wolinski erzählt. Und in der Tat, sie zieht einen sofort in ein kontra-idyllisches Drama: ihres.
Und sie kann schreiben, sie ist Bestsellerautorin, jedenfalls in Frankreich. Auf Deutsch erschien 1998 nur ein einziger Roman von ihr. Dass jetzt ein zweites Buch übersetzt wurde, liegt nicht an der Unberechenbarkeit literarischer Entdeckungen, sondern an einem grausamen außerliterarischen Ereignis: Ihr Mann saß am 7. Januar 2015 in der Redaktion von "Charlie Hebdo", als zwei Jung-Dschihadisten mit Kriegswaffen sie in ein Blutbad verwandelten. Mit ihm starben in nur fünf Minuten noch elf Menschen, acht wurden schwer verletzt und noch viele mehr traumatisiert.
Cover - Maryse Wolinski: "Schatz, ich geh zu Charlie!"
Cover - Maryse Wolinski: "Schatz, ich geh zu Charlie!"© Residenz Verlag

Brief der"rebellischen Muse" an einen "ewigen Phallokraten"

Georges Wolinski war 80, ein berühmter Zeichner, Kämpfer für die Freiheit auch der Satire, geboren in Tunis als Kind polnisch-italienischer Juden; Maryse Wolinskis Geburtsort heißt Algier. Die Mörder haben algerische Vorfahren und Kalaschnikows. Bei "Charlie" arbeiteten seit je Veteranen der Befreiung des Maghreb vom Kolonialismus, 1992 hieß eine Firma zur Rettung der Zeitung ausgerechnet SARL Kalachnikov. Französische Paradoxien, gespiegelt im Titel zu diesem Buch: "Chérie, je vais à Charlie!" G.s Abschiedssatz bleibt Maryse Wolinski im Ohr wie die Liebe in ihrem Körper. Ohne Ende.

Warum wurde das Polizeiauto abgezogen?

Ihre Erzählung ist eine erschütternde Mischung: zugleich offener Liebesbrief, geschrieben von der "rebellischen Muse" eines "ewigen Phallokraten", ohne dessen Blick sie nicht leben kann, und nüchterne Reportage über die Frage, wie das Massaker möglich war. Sie selbst schwankt zwischen Fassungslosigkeit und Aktivismus, versucht es mit Verleugnung, bis schließlich der Zorn sie packt und sie anfängt zu recherchieren: bei Überlebenden, bei allen für die Sicherheit von "Charlie Hebdo" verantwortlichen Behörden.
Warum wurden, trotz neuer Warnungen, das Polizeiauto vor dem Haus und die Hälfte der Personenschützer abgezogen, warum gab es noch immer drei offene Zugänge zum Gebäude und weder Sicherheitsschleuse noch Fluchtwege in der Redaktion? Hatte die mangelhafte Ausrüstung und Ausbildung der Bewacher zu tun mit dem Gemurre von Gewerkschaftlern über die "Luxusbewachung" von ein paar – dubiosen! – Journalisten?

"Wer bringt mich denn jetzt zum Lachen?"

In 15 Kapiteln reflektiert sie zwei Ebenen: Was geht in mir vor? Was draußen? Sie protokolliert schonungslos, in bezug auf sich selbst wie auf den Mythos "Charlie", die Querelen, die ewig prekären Finanzen. Vielleicht wären damals alle bald arbeitslos geworden – plötzlich sind die meisten tot, und der Rest hat prekär viel Geld. Aber das ist nicht ihr Problem. Für sie, die "Kriegswitwe", geht es nur ums Überleben. Darum, wie sie das verzweifelte: "Wer bringt mich denn jetzt zum Lachen?" verwandeln kann in die Fähigkeit, "Georges fortfliegen zu lassen".

Maryse Wolinski: Schatz, ich geh zu Charlie!
Aus dem Französischen von Dieter Hornig und Katrin Tomaneck
Residenz Verlag, Salzburg-Wien 2017
136 Seiten, gebunden 19,00 Euro

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