Martin Luther King und der zivile Ungehorsam

Die Pflicht, gegen Unrecht aufzubegehren

Martin Luther King steht anlässlich des Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit vor tausenden Demonstranten am Lincoln Memorial in Washington. Das Foto wurde am Tag seiner berühmten "I have a Dream"-Rede aufgenommen.
Martin Luther King beim Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit © imago stock&people
Christian Volk im Gespräch mit Christian Möller · 01.04.2018
Martin Luther King war sich sicher: Die Mächtigen im Staat lassen sich nicht mit Argumenten überzeugen. Nur friedliches Aufbegehren gegen moralisches Unrecht könne letztendlich einen Wandel herbeiführen. Ist ziviler Ungehorsam für eine Repolitisierung der Demokratie also wesentlich?
Wir haben die moralische Pflicht gegen ungerechte Gesetze gewaltlos aufzubegehren. Geleitet von dieser Überzeugung sollte Martin Luther King zu einem der wichtigsten Köpfe der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1950er und -60er Jahre werden. Mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams kämpfte das Civil Rights Movement gegen die rassistisch motivierte Ungleichbehandlung von schwarzen Menschen.
Wann aber ist ein Gesetz ungerecht? Martin Luther King hat sich in dieser Frage auf eindeutige Kriterien bezogen. Der Politikwissenschaftler Christian Volk paraphrasiert Kings Auffassung: "Ein ungerechtes Gesetz ist eins, das bei einer Gruppe Minderwertigkeitsgefühle hervorbringt, das Ungleichheiten zementiert, das die Seele zerstört, wie es die Rassengesetzgebung tut."

Den Status quo kostspielig machen

Aber bietet der parlamentarische Weg nicht genügend Möglichkeiten, Ungerechtigkeiten anzuklagen und auf Veränderung zu dringen? Die Unterdrückungsgeschichte der schwarzen Bevölkerung sprach da eine andere Sprache. Auch Martin Luther King – für den Gandhi ein Vorbild war – war zu einer eindeutigen Einschätzung gelangt, führt Christian Volk weiter aus. "King war davon überzeugt, dass er die Mächtigen im Staat nicht mit Argumenten überzeugen wird". Ziviler Ungehorsam hat, so Volk, deshalb die Aufgabe, "die Kosten in die Höhe zu treiben für die machthabende Gruppe, wenn diese am Status quo festhält".
Die Kosten für den Erhalt des gesellschaftlichen Status quo in die Höhe treiben, wollten auch die G20-Proteste im Hamburg vergangenen Jahres. Dabei kam es teilweise zu brennenden Barrikaden und Ladenplünderungen. Anders als die schwarze Bürgerrechtsbewegung der 50er, zielten die Hamburger Gipfel-Proteste nicht auf konkrete rechtliche Veränderungen innerhalb der bestehenden Gesetzesrahmens, meint Volk. Ihre Ziele seien vielmehr mit der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung nicht vereinbar, würden diese transzendieren: "Es geht im Grunde darum, dass die Konfrontation mit dem System gesucht wird, weil man sich nur in dieser Konfrontation dem Gehorsam, den das System von einem verlangt, verweigert."
Ein Gedanke, den der Sozialphilosoph Herbert Marcuse bereits im Zusammenhang mit der Studentenbewegung in den 1960er formuliert hat und der auf die unterstellte Gewaltförmigkeit der bestehenden Rechtsordnung abhebt.

Ziviler Ungehorsam repolitisiert unsere Demokratie

Welchen Platz also sollten Demokratien für zivilen Ungehorsam haben? Zunächst, erläutert Christian Volk, gibt es in den westlichen Gegenwartsdemokratien durchaus ein Bewusstsein dafür, dass die bestehende Ordnung immer fehlbar bleibt und damit änderungsbedürftig sein kann. Deshalb erachten sie zivilen Ungehorsam prinzipiell als legitim. Dieser Protestform komme aber eine weitere wichtige Funktion zu:
Ziviler Ungehorsam – das eine zentrale These von Christian Volk – führt zu einer Repolitisierung der Demokratie. Bei den G20-Protesten hätte eine Gruppe infrage gestellt, wer in der aktuellen Politik überhaupt als legitimer Sprecher auftreten kann.
"Diese Art von Protest verschiebt für einen kurzen Moment den Fokus auf jene, die möglicherweise bislang nicht auf diese Weise zur Sprache kommen. Damit geht auch die Möglichkeit einher, den Status quo anders zu beschreiben als er bislang beschrieben worden ist"
Anknüpfend an Überlegungen von Hannah Arendt meint Christian Volk weiter: "Was wir bei zivilem Ungehorsam haben, auch in Hamburg, ist erstens die Öffentlichkeit von Streit und Dissens und zweitens, dass Leute sich versammeln;, dass sie das Recht auf Versammlung wahrnehmen und damit ein grundlegendes demokratischen Recht wahrnehmen."

Ist ziviler Protest heute wirkungslos?

Dass sich insbesondere junge Menschen für zivilen Ungehorsam statt für politische Partizipation in den Bahnen des Institutionengefüges entscheiden, hat Christian Volk vor allem damit zu tun, dass die Möglichkeiten der institutionellen Teilhabe oft als verknöchert und wenig erfolgsversprechend wahrgenommen werden: "Junge Leute glauben nicht, über den institutionalisierten Weg wirklich Einfluss auf die Politik nehmen zu können."
Aber auch größere Protestbewegungen, wie etwa Occupy Wallstreet oder die G20-Proteste, scheinen oft – politischen Eintagsfliegen gleich – wirkungslos zu verpuffen. Sind sie nicht einfach Energieverschwendung? Christian Volk widerspricht dieser Perspektive: "Solche Protestereignisse kann man sich vorstellen wie eine Messe, eine Handwerksmesse: Man lebt für einen bestimmten Zeitraum und auf einem bestimmten Gebiet eine alternative Lebensform und stellt sie als Gegenkonzept zur Schau. Und gerade in dieser Spannung – im Aufzeigen des Gegenkonzepts zum Bestehenden – wird die politische Symbolik des Camps deutlich."
Gleichzeitig seien die Proteste in der heutigen westlichen Welt tatsächlich von einer ungekannten Nüchternheit bestimmt:
"Man weiß, dass man diese Ziele in absehbarer Zeit nicht realisiert bekommt. Das war für King völlig anders. King war der Überzeugung, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika erst vollständig realisiert ist, wenn die Rassentrennung aufgehoben ist und er war davon überzeugt, dass das zu schaffen ist. Bei den heutigen Protesten gegen den Kapitalismus sieht das ganz anders aus."

Ist rechter Protest auch ziviler Ungehorsam?

Mit größerem Optimismus machen sich aktuell auch rechte Gruppierungen, wie etwa die Identitären, Praktiken des zivilen Ungehorsams zu eigen. Volk meint, Protestaktionen der Identitären könne man – die Konzepte von Martin Luther King oder Herbert Marcuse zugrunde gelegt – nicht als zivilen Ungehorsam auffassen:
"Das hängt damit zusammen, dass ziviler Ungehorsam für King immer emanzipatorischer Natur ist. Die Idee dahinter ist, dass man den Kreis derer erweitert, die in den Genuss der Versprechen der Demokratie kommen. Und was wir rechtem, identitären Protest sehen, ist, dass man den Kreis jener einschränken möchte, die in den Genuss der demokratischen Versprechen kommen, nämlich auf weiße, meist nicht-muslimische und auch nicht-linke Bürgerinnen und Bürger."

Eine weitere zentrale Abweichung rechter Proteste von den Motiven zivilen Ungehorsams in der Tradition von King und Marcuse macht Christian Volk in der Idee der Proteste als gelebte Praxis aus:
"King ist der Überzeugung, das emanzipatorischer, transformativer Protest damit einhergeht, dass man auch selbst jemand anderes wird. Und die rechten, populistischen Bewegungen sagen im Grunde: Du kannst bleiben, wie du bist; die Welt um dich herum muss sich ändern. Auch für King muss die Welt um uns herum natürlich geändert werden, aber auch wir dürfen nicht von unserem Hass und unserer Frustration getrieben werden, wenn wir protestieren".

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