Martin Caparrós: "Der Hunger"

Steine kochen, um die Kinder zu beruhigen

Der argentinische Schriftsteller Martin Caparros
Der argentinische Schriftsteller Martin Caparros © picture-alliance / dpa / Susana Gonzalez
20.11.2015
Eigentlich gäbe es genug Nahrung, um zwölf Milliarden Menschen zu ernähren, sagt der argentinische Schriftsteller Martin Caparrós. Sein Buch "Der Hunger – Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?" klagt die ungerechte Verteilung an und erzählt von einer Mutter, die aus Not ihren Kindern ein Mahl vortäuschte.
Hunger gilt als das größte lösbare Problem der Welt. Denn eigentlich wäre genug Nahrung für alle da, aber sie wird nicht gerecht verteilt. Und so sterben jedes Jahr etwa neun Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung.
"Ich schäme mich für eine Welt, die eigentlich Essen im Überfluss hat, in der Lage wäre, 12 Milliarden Menschen zu ernähren, und dennoch muss eine Milliarde hungern", sagt der argentinische Schriftsteller Martin Caparrós. Er hat fünf Jahre lang mehrere Kontinente bereist und vom Hunger betroffene Menschen besucht. Von diesen handelt sein Buch "Der Hunger". Zum Beispiel von einer Mutter in Bangladesch, die ihren drei Kindern nichts zu essen kochen konnte, "aber dann anfing, einfach Steine zu kochen, um den Kindern vorzutäuschen, dass da was zu essen ist. Und in die Kinder waren beruhigt und gingen ins Bett und schliefen ein", sagt Caparrós. "Und ich gebe zu, ich hatte nicht den Mut, sie zu fragen, was am Morgen danach geschehen ist."
Das System begünstigt die Reichen
Mit seinem Buch wolle er die Leser verstören und zum Nachdenken anregen, so der Autor. "Es ist so einfach wegzuschauen. Es ist so einfach, den Hunger zu ignorieren", sagt Caparrós.
Schuld am Hunger sei letztlich das System, das die Märkte der Reichen begünstige. So könne man beispielsweise zehn Kilo Getreide so verteilen, dass man je ein Kilo an Bedürftige gebe. "Oder man kann mit diesen zehn Kilo Getreide letztendlich auch dafür sorgen, dass ein Kilo Fleisch hergestellt wird, indem man es als Futtermittel einsetzt."

Martin Caparrós: "Der Hunger"
Verlag Suhrkamp, Berlin 2015
844 Seiten, 29,95 Euro


Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: In Niger, in Indien und auch in den USA und auch in seiner Heimat Argentinien hat Martin Caparrós fünf Jahre recherchiert, und er hat nun ein 800 Seiten schweres Buch vorgelegt über den Hunger, den Millionen Menschen täglich leiden, über die Gründe, über die Scham, Menschen auf den leeren Teller geschaut zu haben mit sattem Bauch. "Der Hunger" ist der schlichte Titel. Martin Caparrós, Schriftsteller und Journalist war zu Gast bei uns im Studio, und ich wollte zuerst von ihm wissen, wie viel Wut im deutschen Untertitel – "Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?", wie viel Wut in diesem Titel steckt.
Martin Caparrós: Wissen Sie, dieser Untertitel, den hat der deutsche Verleger hinzugefügt, der ist nicht wirklich von mir. Allerdings, man findet diesen Satz häufig im Buch, er taucht immer wieder auf. Sie haben schon Recht, da steckt schon Wut in mir, aber nicht nur Wut, sondern ich schäme mich auch, ehrlich gesagt. Ich schäme mich für eine Welt, die eigentlich Essen im Überfluss hat, in der Lage wäre, 12 Milliarden Menschen zu ernähren und dennoch muss eine Milliarde hungern oder ist für eine Milliarde Menschen einfach nicht genug Essen da.
Woran liegt das? Das liegt einfach daran, dass es in einigen Teilen der Welt einfach Reiche gibt, die zu viel haben und an anderen Orten wiederum entsteht dieses Ungleichgewicht, und dadurch kommt dann dieser Hunger. Und ja, diese Wut und diese Scham, die haben mich angetrieben. Aber lassen Sie mich eins klarstellen: Wenn Scham und Wut der Ausgangspunkt waren, dieses Buch zu schreiben, dann handelt das Buch nicht davon, sondern das Buch handelt wirklich von Betroffenen. Das Buch handelt von Menschen, die unter Hunger leiden und damit konfrontiert sind.
"Die Märkte der Reichen werden bevorzugt beliefert"
Frenzel: Wenn wir eigentlich dazu in der Lage wären, die Menschen zu ernähren, aber es passiert trotzdem nicht – wer ist dafür verantwortlich, zu welchen Ergebnissen kommen Sie in Ihrem Buch?
Caparrós: Letztendlich ist das System schuld, in dem wir leben, wo eben die Märkte für die Reichen bevorzugt beliefert werden und man sich um die Märkte, wo arme Menschen leben, einfach nicht so dafür interessiert. Ich gebe Ihnen ein ganz einfach Beispiel: Wenn man zehn Kilo Getreide hat, dann geht es um die Verteilung. Man kann diese zehn Kilo Getreide so verteilen, dass man zehn Mal ein Kilo an Bedürftige gibt oder man kann mit diesen zehn Kilo Getreide letztendlich auch dafür sorgen, dass ein Kilo Fleisch hergestellt wird, indem man es als Futtermittel einsetzt. Und dann wiederum, Fleisch ist etwas, was sich nur die Menschen in den reicheren Regionen leisten können, und das ist es, was ich meine. Ich habe Ihnen hier nur ein ganz einfaches Beispiel gegeben, aber in diesen Proportionen läuft es in einem viel größeren Maßstab letztendlich ab.
Frenzel: Wenn wir dieses "man", was Sie da beschreiben – man kann anders verteilen –, genauer fassen wollen, wer könnte das sein? Sind das die Regierungen in den betroffenen Ländern, spielen aber auch Organisationen, wie die Weltbank, wie der IWF, spielen sie eine Rolle?
IWF und Weltbank sind maßgeblich verantwortlich für den Hunger
Caparrós: Also diese Organisationen, die Sie gerade erwähnt haben, wie der International Währungsfonds oder die Weltbank, die sind eigentlich zum größten Teil dafür verantwortlich, dass es diese Ungleichheit bei der Verteilung des Essens gibt, also werden die nichts dran ändern, weil das sind die Organisationen, die seit den 1990er-Jahren viele Länder Lateinamerikas, aber auch Afrikas und Asiens, gezwungen haben oder die Regierungen dieser Länder gezwungen haben, sich zurückzuziehen, wenn es darum ging, einen Zugang auf die eigene Produktion von Essen zu haben, und das alles unter dem Deckmäntelchen der freien Wirtschaft, und haben da massiven Einfluss.
Frenzel: Sie haben anfangs gesagt, dass Sie Menschen darstellen wollten, die Hunger leiden. Sie sind dafür viel unterwegs gewesen, haben recherchiert in verschiedenen Ländern – gibt es da irgendeine Situation, die Sie nach wie vor im Kopf haben, die Sie verfolgt bis heute?
Caparrós: Sicher, da gibt es viele, an die ich denke. Aber das Verrückte oder das Seltsame an dieser Form von Recherche ist ja, dass viele der Leute, die ich da getroffen habe, dass ich die nie wiedersehen werde und auch nie wieder wissen werde, was wirklich aus ihnen geworden ist. Beispielsweise gestern dachte ich an eine Mutter in Bangladesch, die ihren drei Kindern nichts zu essen kochen konnte, aber dann anfing, einfach Steine zu kochen, um den Kindern vorzutäuschen, dass da was am Kochen ist und die Kinder waren beruhigt und gingen ins Bett und schliefen ein. Ich gebe zu, ich hatte nicht den Mut, sie zu fragen, was am Morgen danach geschehen ist, ob die Kinder das gemerkt haben, dass da eigentlich gar kein Essen war. Diese Frage habe ich mich nicht getraut, ihr zu stellen.
Den Leser zum Nachdenken anregen
Frenzel: Wenn Sie diese Geschichten aufschreiben jetzt in diesem Buch, "Der Hunger", was wünschen Sie sich, was erhoffen Sie sich von diesem Buch? Soll das ein Appell sein, der Verantwortliche wachrüttelt, gerade in unserem Teil der Welt?
Caparrós: Natürlich will ich den Leser ganz bewusst etwas verunsichern, ihn etwas verstören, und ich möchte, dass er sich selbst gewisse Fragen stellt oder sich eine Antwort darauf gibt, warum wir damit leben mit diesem Wissen. Es ist einfach, wegzuschauen, es ist einfach, den Hunger einfach zu ignorieren. Selbst wenn man sich damit konfrontiert, was macht man dann? Dann denkt man vielleicht ein, zwei Minuten drüber nach und dann geht man zur Tagesordnung über. Alles, was ich erreichen möchte, ist, dass man vielleicht zwanzig Minuten drüber nachdenkt oder vielleicht sogar noch ein bisschen länger und sich vielleicht wirklich die Frage stellt, was man dagegen tun könnte.
Frenzel: "Hunger" heißt sein Buch: Der Argentinier Martin Caparrós zu Gast bei uns hier im Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch! Thank you very much!
Caparrós: Thank you!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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