Marshall Sahlins: "Das Menschenbild des Abendlands"

Der große Bildungsbogen

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Marshall Sahlins gilt als einer der einflussreichsten US-amerikanischen Sozialanthropologen der Gegenwart. © Matthes&Seitz / dpa
Von Arno Orzessek  · 31.08.2017
Dem Nachdenken über den Menschen liegt ein fundamentales Missverständnis zugrunde, resümiert der US-amerikanische Sozialanthropologe Marshall Sahlins in seinem neuen Buch. Unser Kritiker findet seinen Angriff auf die Denktraditionen des Westens eine erfrischende Lektüre.
Um mit dem Ende zu beginnen: Marshall Sahlins "bescheidenes Fazit" lautet, "dass die westliche Zivilisation auf einer perversen und falschen Vorstellung von der menschlichen Natur errichtet wurde". Was kein bescheidenes Fazit ist, sondern eine Provokation sondergleichen. Laut Sahlins wird das westliche Menschenbild von einem - irrtümlich für fundamental gehaltenen - Gegensatz zwischen Natur und Kultur bestimmt, im Widerspruch zur der Sichtweise anderer "Völker" und Zivilisationskreise, "denen Tiere im Grunde menschlich erscheinen und nicht Menschen im Grunde tierisch". Folglich habe sich im Westen der unzerstörbare Glaube ausgebreitet, dass Menschen ohne straffe Herrschaft in blutige Anarchie verfallen. Dabei sei es nicht entscheidend, ob die Herrschaft von Hierarchie oder Gleichheit, von monarchischer Autorität oder republikanischem Ausgleich geprägt ist. Ob so oder so, stets sei "eine totalisierte Metaphysik der Ordnung", wie er sich etwas rätselhaft ausdrückt, auf der Grundlage des fatalen Natur-Kultur-Gegensatzes wirksam.

Fragen an die westliche Geisteswelt

Zur Begründung seiner harten, oft mit intellektuellem Halbstarkengestus vorgetragenen Kritik schlägt Sahlins (geboren 1930) den ganz großen Bildungs-Bogen. Namentlich Thomas Hobbes, der im Leviathan einen allmächtigen Souverän zur Beherrschung der ungezügelten Menschen konzipiert, und John Adams, der zur Beherrschung auf ein ausgleichendes System wetteifernder Mächte setzt, seien von Thykidides geprägt. Der griechische Historiker aber habe ein Menschenbild vorgezeichnet, das von Herrschsucht und Habgier geprägt ist, und den 'Krieg aller gegen alle' als ständig drohende Option darstellt. Auch Augustinus' Erbsünde-Lehre sei vor allem eine einflussreiche Festschreibung der bösartigen menschlichen Triebhaftigkeit. So führt Sahlins weniger stringent als sprunghaft, aber stets gedankenreich die westliche Geisteswelt von den Vorsokratikern bis Donald Rumsfeld vor und hinterfragt deren Überzeugung, dass allein Kultur im weitesten Sinne das Biest Mensch zähmen könne – falls überhaupt. Mittlerweile übrigens wird laut Sahlins der menschliche Egoismus positiv umgewertet, weshalb (gut neoliberal) gelte: "die beste Regierung: so wenig Regierung als möglich."

Beseelte Berge

Unbefriedigend bleiben Sahlins Andeutungen von alternativen Menschenbildern. Er teilt mit, viele Völker würden keine "ursprüngliche Natur" kennen, "und sie meinen auch nicht, diese überwinden zu müssen". Wen er da meint, bleibt offen. Sahlins klagt, in der abendländischen Vorstellung habe die Natur kein Subjekt, andere Völker dagegen lebten in Welten, "die vollständig von Subjektivität durchdrungen sind" samt beseelter Wesen wie Sonne, Berge, Tiere, Pflanzen. Ende des Arguments. Keine Beispiele, Zitate oder Verweise auf Forschung. Und keine Begründung, inwiefern beseelte Berge besser sind als unbeseelte. Klar wird immerhin, Sahlins bezichtigt das Christentum und das Judentum, die Heiden gerade wegen deren Anbetung der Natur verdammt und dieser damit jegliche spirituelle Qualität geraubt zu haben. Sahlins insinuiert, mit der Formel "Die menschliche Natur ist die Kultur" die unselige Dichotomie aufheben zu können - allein, die Durchführung fehlt. Letztlich bleibt die Polemik im Angriff auf die Denkkonventionen des Westens stecken. Der erfrischende Versuch indessen lohnt die Lektüre.

Marshall Sahlins: "Das Menschenbild des Westens - Ein Missverständnis?"
Übersetzt von Andreas L. Hofbauer
Matthes & Seitz Berlin, Berlin , 2017
206 Seiten, 16 Euro

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