"Marokko hat einfach zu allen Vorschlägen nein gesagt"

Mitglieder der UN Mission for the Referendum in Western Sahara (MINURSO), versuchen ihr Auto aus dem Sand zu bewegen.
Mitglieder der UN Mission for the Referendum in Western Sahara (MINURSO), versuchen ihr Auto aus dem Sand zu bewegen. © UN Photo/Martine Perret
Stefan May im Gespräch mit Ulrike Timm · 29.04.2011
Ein Jahr lang war Stefan May Militärbeobachter bei MINURSO, der UN-Mission in der Westsahara, die vor 20 Jahren begonnen hat, und in Vergessenheit geraten ist. Weil Marokko auf Zeit setzen würde, könne die UNO nichts anderes tun, als den Status quo weiterzuführen.
Ulrike Timm: Wenn Sie mit MINURSO, der UN-Mission in der Westsahara, auf Anhieb nichts verbinden, dann könnte das daran liegen, dass diese UN-Mission heute auf den Tag genau schon 20 Jahre dauert, und dass sich in der Westsahara – MINURSO hin, MINURSO her – seit 20 Jahren fast nichts tut. Und genau darum soll es jetzt gehen: eine UN-Mission, die sich weitgehend verläppert hat.

1991 ging die UNO mit ihren Blauhelmen in die Westsahara, der offene Kampf zwischen Marokko, das einen Großteil des Landes besetzt hat, und der Polisario, die für die Unabhängigkeit der einheimischen Saharauis kämpft, war durch einen Waffenstillstand beendet worden. Und Ziel der Mission: das Land zu begleiten, bis ein Referendum geklärt hat, wohin sich die Bevölkerung bekennt, wer zu wem gehören will.

Das sollte spätestens 1992 stattfinden, ist aber nie passiert. Und bis heute hat Marokko den größten rohstoffreichen Teil des afrikanischen Küstenstaates unter Kontrolle und die Polisario agiert im Hinterland. Der größte Teil der Angehörigen der Saharauis aber fristet sein Leben in algerischen Flüchtlingslagern, es gibt also mittlerweile eine richtige Generation Flüchtlingslager, und die UNO hat gerade die Mission MINURSO wieder für ein Jahr verlängert.

Vom Agieren im Leerlauf kann uns Stefan May erzählen, er war ein Jahr lang bis zum Januar dieses Jahres Militärbeobachter der UN in der Westsahara, also ein Teil dieser Mission MINURSO. Schönen guten Tag, Herr May!

Stefan May: Guten Tag!

Timm: Als Sie dahin kamen, da war diese Mission ja schon 19 Jahre am Laufen, und natürlich haben Sie gewusst, wohin Sie fahren und den großen Konflikt, aber haben Sie wirklich im Detail noch verstanden, wer mit wem gegen wen, was diese Mission genau bezweckt?

May: Wenn man Westsahara hört, dann wird man vielleicht nicht so viel verbinden, aber bei Polisario, da klickt's dann ein bisschen im Hinterkopf. Und wenn man ein bisschen älter ist, dann weiß man noch aus der Jugendzeit, da gab es so eine Art romantische Befreiungsbewegung und Solidaritätskomitees in unseren Breiten, mit der Polisario, mit dieser Befreiungsbewegung.

Aber dann hat sich natürlich die Welt abgewandt von diesem Schauplatz, und das Ganze ist in Vergessenheit geraten. Und so musste auch ich wieder mir das mühsam in Erinnerung rufen, und dann wird man natürlich daheim gebrieft auf den Einsatz und was einen da erwartet. Und dann an Ort und Stelle sieht natürlich alles ganz anders aus, als man es sich vorgestellt hat.

Timm: Was haben Sie denn dort genau gemacht?

May: Man ist dort Militärbeobachter – da muss man vorausschicken, das ist keine friedenserhaltende oder friedenserzwingende Mission, man ist dort unbewaffnet unterwegs. Das sind alles Offiziere, und zwar Offiziere aus aller Welt, aus insgesamt 30 Nationen, ungefähr 250 Leute sind dort unterwegs. Man ist in neun Stützpunkten aufgeteilt, die sind teilweise auf der marokkanisch besetzten Seite, teilweise auf der Polisario-Seite.

Und man macht eigentlich hauptsächlich Patrouillen, das heißt, man fährt viel Auto. Man fährt in diesen Geländewagen, eine Patrouille sind zwei Geländewagen, jeder Wagen hat zwei Leute, also zu viert ist man da unterwegs, und man hat da so 20, 30 Routen, die man da im Monat abfahren muss. Da gibt es einen sehr konkreten Patrouillenplan, welche Patrouille an welchem Tag wohin fährt, und da ist man einige Stunden unterwegs, fährt durch die Wüste, fährt durch teilweise steiniges, teilweise sandiges Gelände, aber relativ abwechslungslos, kommt zurück und schreibt einen Patrouillenreport. Und das ist sozusagen die Arbeit, die man dort macht.

Und gerade auf der Polisario-Seite ist es besonders unergiebig, da kommt man heim und hat praktisch nichts gesehen, außer flimmernder Hitze und viel Sand. Und da muss man dann auch in den Report hineinschreiben, wie viel Kamelherden, wie viel Ziegenherden man gesehen hat, und die zählt man und dann gibt man die mit den Koordinaten ein und schreibt das in den Report – westlich, nördlich, sagen wir 50 Kamele ohne Hirten.

Timm: Also Auto fahren, Sand sehen, auf festgelegter Strecke und hinterher aufschreiben, man ist Auto gefahren und hat Sand gesehen. Das klingt fast nach einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

May: Das stimmt, das ist manchmal ein Affront gegen den Intellekt, habe ich mir damals oft gedacht, aber ...

Timm: Aber was soll das?

May: Das wird offenbar gemacht, damit man keinen leeren Patrouillenreport abgibt. Ich hab einmal gefragt, unsere Stabsleute, warum wir das machen müssen, warum wir Tiere zählen müssen, und eigentlich ja da sind, um Menschen zu zählen. Und dann wurde mir gesagt: Na ja, das sind Kamelherden, die auch aus Mauretanien kommen und wo Tiere sind, da sind Menschen, und da gibt es dann Menschenbewegungen, und da kann man frühzeitig erkennen, wenn da sich größere Menschenbewegungen irgendwo ansammeln und in irgendwelche Richtungen marschieren.

Nur halte ich das für nicht sehr stichhaltig, denn das sind zwei, drei Hirten, die da mitmarschieren. Und wenn man wirklich Menschen sieht, die da lange Märsche machen, dann wird man das ohnehin berichten, und dann braucht man nicht unbedingt die Kamele zählen.

Timm: Fühlen sich da nicht alle Beteiligten nicht nur ernüchtert, sondern auch verschaukelt? Man kommt ja mit der Vorstellung, man will helfen, und irgendwie seit 20 Jahren sitzt man da, de facto hat das Referendum nicht stattgefunden, man weiß eigentlich gar nicht mehr, warum man da ist – was erzählt man sich da untereinander?

May: Ich glaube, dass es eine gewisse Gesetzmäßigkeit ist, wenn man nicht viel zu tun hat, dann schafft man sich Arbeit, und die UNO ist da wirklich Spezialist in diesen Dingen. Die UNO verwaltet sich nicht nur selbst, sondern sie schafft noch zusätzliche Arbeit. Es ist eine ungeheure Bürokratie, die man dort Tag für Tag zu machen hat. Jeder hat, wenn er von der Patrouille zurückkommt, Berichte zu schreiben.

Da sitzt man oft bis in die Nacht hinein und schreibt irgendwelche Reports über den Zustand in der Teamsite, dass es da, was weiß ich, ein verstopftes Klo gibt und dass jetzt da wieder mal ein Spezialist kommen muss, nachsehen. Man muss regelmäßige Berichte über andere Dinge schreiben, und dann bekommt man irgendwie im Alltag das Gefühl, man ist hier wichtig, man tut hier wesentliche Arbeit, wenn man eine Art Stundenplan hat, wo man gewisse Dinge abzuarbeiten hat, die aber mit dem Referendum überhaupt nichts zu tun haben.

Timm: Das klingt gehörig absurd. Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Seit 20 Jahren ist die UN mit der Mission MINURSO in der Westsahara präsent, und wir sprechen mit Stefan May hier im "Radiofeuilleton".

Herr May, ich erinnere noch mal an den Anlass, das Referendum, was dann irgendwie völlig aus den Augen geraten ist, über den Status der Westsahara. Das ist ja auch daran gescheitert, dass sich Marokko und die Polisario nicht verständigen konnten, wer wählen darf, wer ein Einheimischer ist. Hat man denn den Eindruck, dass dieses Referendum, also die Wurzel des Ganzen, dass das überhaupt irgendjemand noch will, dass da noch jemand dran denkt?

May: Man müsste das vom Politischen her sehen, und ich glaube, dass Marokko von Anfang an diese UN-Mission ein bisschen in die Tasche gesteckt hat. Und da gibt es viele Indizien dafür, aber auf alle Fälle ist eines klar: Marokko hat – ob es es jetzt auch noch tut, weiß ich nicht, aber sicherlich – den größten Teil der Zeit mit dieser Zeit gespielt und auf Zeit gesetzt.

Timm: Wie? Wie haben die das gemacht? Ich meine, die haben immer noch den größten Teil besetzt.

May: Ja, Marokko hat einfach zu allen Vorschlägen nein gesagt, und dann wurde das Referendum immer weiter aufgeschoben. Und in dieser Zeit hat aber Marokko einen ungeheuren Fortschritt in der Infrastruktur gemacht. Da gibt es auf der marokkanisch besetzten Seite ungeheuer viele, Hunderte Kilometer lange asphaltierte Straßen, sie haben die Städte ausgebaut, sie bezahlen ihre eigene Bevölkerung, dass sie dorthin übersiedeln.

Ich bin in der Hauptstadt Laâyoune immer wieder, wenn ich dort zu tun hatte, auch zum Friseur gegangen, und dann hab ich gefragt, ob er von hier ist, und der eine hat gesagt, er ist aus Marrakesch, der andere hat gesagt, er ist aus Fès und der Dritte aus Meknès. Also das sind Menschen, denen die Regierung zeigt, dass sie in das besetzte Gebiet kommen, und irgendwann einmal wird der Zeitpunkt erreicht sein, wo die Marokkaner sagen, jetzt können wir gefahrlos ein Referendum machen, denn wir haben hier die Mehrheit unserer Leute, und die werden sagen, wir wollen zu Marokko.

Timm: Das heißt, Marokko setzt ganz klar auf die Macht der Fakten, und wenn es nach Marokko ginge, könnte dieses UN-Referendum auch noch 20 Jahre dauern. Das bedeutet aber auch, dass die großen Flüchtlingslager in Algerien, wo die Angehörigen der Polisario ein klägliches Leben fristen seit 20 Jahren, so eine ganze Generation Flüchtlinge herangewachsen ist, dass die dann praktisch auf ewig bestehen. Werden die Leute da nicht unruhig?

May: Das stimmt, die Leute sind unruhig, die Leute werden unzufrieden, das haben wir auf der Polisario-Seite immer wieder gesehen. Wie ich hingekommen bin, wurde mir auch gesagt, vorsichtig sein, besonders die Jungen sind jetzt wieder mal sehr frustriert, wenn nichts weitergeht. Es wird dann auf Polisario-Seite immer wieder gesagt, ja, die UNO, die tut nichts für uns, und dann werden wir mit dem Krieg beginnen.

Das ist aber ein bisschen Kriegsrhetorik, das sagen sie immer wieder, bin ich draufgekommen, aber natürlich ist eine riesige Unzufriedenheit. Und die Menschen in Algerien, um die Stadt Tindouf leben 100.000 in Flüchtlingslagern, das sind Zeltstädte. Ich war selbst nie dort, hab aber immer wieder gehört, wie traurig und tragisch das für die Menschen dort ist. Aber im Grunde genommen: Es passiert nichts.

Und seitdem es keine Sowjetunion gibt, gibt es auch keinen Fürsprecher der Polisario mehr. Ein bisschen steht Algerien dahinter, die machen so einen Stellvertreterkrieg oder eine Stellvertreterauseinandersetzung mit Marokko, aber es passiert nicht viel. Grundsätzlich ist aber auch, glaube ich, Marokko nicht mehr sehr glücklich mit der Situation, weil sie keine Investoren in dieses Gebiet bekommen, solange dort nicht ein klarer rechtlicher Zustand herrscht. Laut UN ist ja das Gebiet das letzte nicht entkolonialisierte Gebiet der Welt.

Timm: Wenn es denn dort seit 20 Jahren keine Lösung gibt, keinen Fortschritt, Stillstand, dann verschwenden ja alle Leute miteinander ihre Kraft, ihr Geld, ihre Zeit, ihre Lebenszeit, weil sich nichts tut. Sie haben es nun konkret erlebt: Wäre denn irgendwas der erste Schritt in die richtige Richtung, was könnte das denn überhaupt sein?

May: Das ist sehr schwierig. Mir ist nur eines aufgefallen, und das macht das Ganze so traurig. Ich habe wieder erlebt, wie zahnlos eigentlich die Vereinten Nationen sind. Sie haben letztlich keine Macht, sie können nur vermitteln, sie können versuchen zu vermitteln, aber wenn jemand auf der einen oder beide Seiten nicht bereit sind, etwas zu akzeptieren oder etwas weiterzubringen, dann ist das ein Status quo, der weitergeführt wird.

Und das Einzige, das sich die UN an den Hut stecken können, ist, dass sie sagen, es war jetzt 20 Jahre dort Frieden, es hat ja dort wirklich ein sehr grausamer Krieg geherrscht, ein Guerillakrieg der Polisario gegen den Besatzer Marokko, der Marokko ja sehr viel gekostet hat täglich. Und dort ist zumindest jetzt ein friedlicher Zustand.

Aber irgendwann werden beide Seiten von sich aus etwas tun müssen, das wird wahrscheinlich nicht mehr 20 Jahre dauern, aber es wird irgendwann einmal so weit sein. Die Polisario ist auch heute ein Verein von eher älteren Herrn geworden, das ist nicht mehr die bis an die Zähne bewaffnete Guerillaarmee, die haben noch immer die alten sowjetischen Waffen, die mit der Zeit auseinanderfallen – also auch die Zeit selbst wird dafür arbeiten, dass es zu einer Lösung kommt, aus den Konfliktparteien selbst heraus.

Timm: Stefan May zieht ein ernüchterndes Fazit aus 20 Jahren UN-Einsatz in der Westsahara. Er hat dort ein Jahr lang als Militärbeobachter der UNO bei der Mission MINURSO gearbeitet.
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