Marion Poschmann: "Die Kieferninseln"

Poetische Räume der Romantik

Marion Poschmann: "Die Kiefern-Inseln"
Marion Poschmann: "Die Kiefern-Inseln" © Lee Siew Hua / The Straits Times / Suhrkamp
Von Maike Albath · 10.09.2017
Wie in ihren früheren Romanen hat Marion Poschmann nicht nur in der Handlung und in den Figuren eine spannungsreiche Dynamik entfalten lassen, auch ihre Sprache sei bezwingend. Unsere Literaturkritikerin ist begeistert.
Der Privatdozent Gilbert Silvester besitzt eine impulsive Natur. Kaum träumt der nur mäßig erfolgreichen Wissenschaftler, dass seine Ehefrau Mathilda ihn betrügt, verlässt er wutentbrannt die gemeinsame Wohnung und setzt sich in ein Flugzeug nach Tokyo. Dabei interessiert ihn Japan überhaupt nicht – seit jeher pflegt er eher eine Neigung zu Kaffeeländern.
Die hochritualisierte Alltagskultur mit ihren Teezeremonien, für die Mathilda sich begeistern könnte, flößt ihm Widerwillen ein. Aber nun ist Gilbert in Tokyo. Mehr aus Zufall hält er auf einem Bahnsteig einen jungen Mann davon ab, sich vor einen einfahrenden Zug zu werfen. Aus dieser merkwürdigen Bekanntschaft ergibt sich eine Pilgergemeinschaft besonderer Natur, bei der der japanische Student Yosa Tamagotchi nach einem geeigneten Ort für sein Vorhaben sucht, während Gilbert Silvester ihn zwar begleitet, aber zugleich den Spuren eines Klassikers der japanischen Reiseliteratur folgt und dabei sich selbst begegnet.

Kann sein eigenes Verhalten nicht reflektieren

Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, Verfasserin einer Reihe von Romanen und Lyrikbänden, versteht sich auf skurrile Figuren, die sich in ihr Inneres verknoten, ohne dies zu bemerken. In ihrem neuen Roman "Die Kieferninseln" ist der flüchtige Akademiker nicht in der Lage, sein eigenes Verhalten zu reflektieren, geschweige denn, die Erschütterung seiner Frau zu dechiffrieren.

Auf dem "Blauen Sofa" der Frankfurter Buchmesse haben wir mit Poschmann über ihren Roman gesprochen:
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Seine autistische Welterkenntnis verändert sich, als er sich mit dem lebensmüden Japaner, der nicht von ungefähr den Namen eines elektronischen Spielzeugs trägt, auseinandersetzen muss. Plötzlich hat er eine Mission. Der junge Mann schleppt sogar ein Suizidhandbuch mit sich herum. Es kommt zu beinahe komischen Reibungen verschiedener semiotischer Systeme. Was stellt die Erfahrung des Fremden mit automatisierten Wahrnehmungsparametern an?

Deutsche Romantik als Echokammer

Den literarischen Referenzhorizont bildet eines der berühmtesten Werke der japanischen Literatur "Auf schmalen Pfaden" durchs Hinterland von Matsuo Bashō (1644-1694), in dem der Dichter Bashō auf der Suche nach Einkehr eine Wanderung durch die nördlichen Provinzen des Landes unternimmt. Untergründig spielt aber auch das Doppelgängermotiv, wie es E.T.A. Hoffmann und Jean Paul in ihren Romanen variiert haben, in Poschmanns Kieferninseln mit hinein. Die deutsche Romantik dient ebenso als Echokammer wie die Haikus der japanischen Lyrik.
Nicht nur die Handlung und die Figuren entfalten eine spannungsreiche Dynamik. Wie in früheren Romanen ist Marion Poschmann in der sprachlichen Gestaltung ihrer poetischen Räume bezwingend. Es gibt Stadtbrachen mit heruntergekommenen Sozialbauten am Rand der Metropole, funktionale Hotels, den düsteren, feuchten, wispernden Wald von Aokigahara, der wie eine Phantasmagorie des Märchenwaldes von Hänsel und Gretel wirkt. Am Ende gelangt Gilbert Silvester allein zu den ikonographischen kleinen Felseninseln am Küstenrand in Matsushima mit ihren windschiefen Schwarzkiefern. Er hat längst begonnen, Briefe nach Hause zu schicken.

Marion Poschmann: "Die Kieferninseln"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
162 Seiten, 20,00 Euro

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