Marie Nimier: "Der Strand"

Sommertage im Schwebezustand

"Der Strand" von Marie Nimier
Die ganze Szenerie in "Der Strand" hat etwas Archaisches, beinahe Mythisches. © Verlag Dörlemann/imago/Hartenfelser
Von Carolin Fischer · 25.06.2018
Eine Frau trifft auf einer Mittelmeerinsel auf einen Mann und seine Tochter an. Vieles bleibt vage in "Der Strand" von Marie Nimier - und weit entfernt von allen "gewöhnlichen" Strandurlauben. Und doch treffen wir dort auf Menschen aus unserer Gegenwart.
Nach einer ersten Karriere als Schauspielerin, Sängerin und bis heute erfolgreiche Songwriterin (u.a. für Juliette Gréco oder Jonny Hallyday) begann Marie Nimier, Tochter des Schriftstellers Roger Nimier, ebenfalls Romane, Kinderbücher und Theaterstücke zu schreiben. Anfang der 90er erschienen zwei ihrer Romane auf Deutsch: "Die Giraffe" (Suhrkamp 1990) und "Hypnose für jedermann" (Rowohlt 1995), jetzt auch ihr immerhin 13. in der exzellenten Übersetzung von Rainer Moritz bei Dörlemann. "Der Strand" ist, wie der Titel vermuten lässt, ein Sommerroman, aber keinesfalls eine seichte Strandlektüre, obwohl die Handlung fast ausschließlich an einem solchem spielt: Eine "junge Frau" in einem "nachtblauen Reisebus" "will nur ankommen, an einem verlassenen Strand aufwachen, nichts mehr zu tun haben, als zu schwimmen und zu schauen".

Wir leben im hier und jetzt

Warum genau sie an diesen Strand zurückkehrt, an dem sie zwei Jahre zuvor einige Zeit mit einem Mann in einer Grotte gelebt hat, erfahren wir ebenso wenig wie ihren Namen, oder warum sie jetzt alleine und offensichtlich verstört oder zumindest sehr fragil ist. Traumatische Trennung, Unfall? Einige Indizien legen Spuren, verraten aber nichts. Wir leben ganz im hier und jetzt mit der "Unbekannten", erleben jeden Moment aus ihrer Perspektive. Mit ihr spüren wir die flirrende Hitze, die Verspannungen unter der Halskrause oder den Orangengeschmack, der in ihrem Mund "explodiert".

Schließlich traut sie sich in ihre Nähe

Mit klaren, knappen Sätzen schildert Marie Nimier das Geschehen und lässt uns auf dem Gedankenstrom ihrer Protagonistin vorwärts treiben. Natürlich erinnert die Schreibweise in ihrer Reduktion und ihrer Distanz zu klassischen Erzählmodellen à la Balzac an den Nouveau Roman, doch gibt es hier einen konsequenten Erzählstrang und vor allem eine große Überraschung: Der einsame Strand ist bewohnt, von einem ungleichen Paar, dem "Koloss" und der "Kleinen". Drei Tage lang beobachtet die Unbekannte sie, identifiziert sie als Vater und Tochter, traut sich schließlich in ihre Nähe, isst eine ihrer Orangen und bricht unter der Wut des Mannes, die sich auf ihr entlädt, bewusstlos zusammen.

Sich offenbaren, ohne sich preiszugeben

Die ganze Szenerie – Mittelmeerinsel, vermutlich griechisch, das Meer, die Grotte, der Koloss und zwei zerbrechliche Frauen – hat etwas Archaisches, beinahe Mythisches. Wir sind weit von allen "gewöhnlichen" Strandurlauben entfernt, und dennoch sind es Menschen aus unserer Gegenwart, die hier aufeinandertreffen: Eine junge Frau, offensichtlich in einer Lebenskrise, ein geschiedener Vater, der einige Sommertage mit seiner Tochter verbringen darf. In dieser Situation offenbaren sich die drei einander, ohne sich preiszugeben, so dass ein filigranes Beziehungsgeflecht entstehen kann, dass allen dreien einen zumindest vorübergehend Halt verleiht oder sie zumindest in ein momentanes Gleichgewicht bringt, dem eine gewisse Leichtigkeit innewohnt, die auch den Leser in eine Art Schwebezustand zu versetzen vermag.

Marie Nimier: "Der Strand"
Übersetzung von Rainer Moritz
Dörlemann, Zürich, 2018
176 Seiten 20,00 Euro

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