Margriet de Moor: "Schlaflose Nacht"

Eine Nacht offenbart das Geheimnis des Lebens

Schlaflos - das Photo zeigt zwei erleuchtete Fenster bei Nacht.
Schlaflos - erleuchtete Fenster bei Nacht © dpa
Von Maike Albath · 02.08.2016
Die Geschichte beginnt ganz harmlos: Eine Frau berichtet von ihrer Schlaflosigkeit. Bald wird klar, dass es etwas Unfassbares ist, was sie nachts aufwachen lässt. Die Autorin Margriet De Moor versteht sich in Untiefen menschlicher Beziehungen, was sie in ihrer Novelle "Schlaflose Nacht" beweist.
Margriet De Moor versteht sich auf die Untiefen menschlicher Beziehungen, und in vielen Romanen der niederländischen Schriftstellerin steht etwas Unerklärliches im Mittelpunkt – jemand wendet sich ab, eine versteckte Seite kommt zum Vorschein, verlässliche Bindungen lösen sich plötzlich auf. So ist es auch in der Novelle Schlaflose Nacht.
Es beginnt alles ganz harmlos. Eine Frau ergreift das Wort und berichtet von ihrer Schlaflosigkeit: Seit einiger Zeit verzichte sie darauf, sich im Bett hin und her zu wälzen, stehe stattdessen auf und backe Kuchen. So auch in dieser Nacht. In Gesellschaft ihres Hundes betritt sie die Küche, greift zu den Zutaten und beginnt, den Teig für Butterkuchen und später für russischen Zupfkuchen zusammen zu rühren.
Die Zubereitung des Gebäcks umrahmt die Novelle und gibt den Rhythmus vor. Die Tonlage der Frau ist ruhig und wohl temperiert, obwohl schon bald klar wird, dass es etwas Unfassbares ist, was sie nachts aufwachen lässt. Dabei hat sie sogar Gesellschaft: Ein Mann, den sie an diesem Tag zum ersten Mal getroffen hat, schläft tief und fest in ihrem Bett.
Die Ich-Erzählerin tastet ihre Umgebung geradezu körperlich ab. Sie spürt unter ihren nackten Füßen den weichen Holzboden ihres alten Bauernhauses, sie beugt sich zum Backofen, öffnet die Schränke, lässt sich im angrenzenden dunklen Wohnzimmer nieder. Alles wurde noch von ihrem ersten Mann eingerichtet, erwähnt sie, der in praktischen Dingen äußerst bedachtsam war.

Der Tod ihres Ehemannes ist der Glutkern der Novelle

Vierzehn Monate dauerte die Ehe nur, dann nahm sich ihr Mann Ton im Gewächshaus das Leben. Dieser Tod bildet den Glutkern der Novelle, denn Ton hinterließ keinen Abschiedsbrief. Es gab weder Anzeichen von Schwermut noch irgendwelche Vorfälle, die eine Erklärung hätten bieten können.
Der Selbstmord wirkte auf die damals Anfang zwanzigjährige Ehefrau, die gerade Lehrerin geworden war, wie eine Schuldzuweisung. Vielleicht hat sie auch deshalb nie das Haus und das Dorf verlassen können – sie blieb gebannt von der Tat. Aus der Retrospektive schildert sie nun, wie sie Tons Schwester im Studium kennenlernte, auf einem Schlittschuhausflug dann ihrem Bruder begegnete und sich ihr Leben zu runden schien, bis es jäh abriss. In den kommenden Jahren kreiste ihr gesamtes Dasein um dieses Rätsel. Als sie komplett zu veröden droht, rät ihr ihre Schwägerin, es mit Liebhabern zu versuchen.
Margriet de Moor, Jahrgang 1941, ausgebildete Pianistin und eine der profiliertesten holländischen Schriftstellerinnen, legt mit Schlaflose Nacht eine elegante Variation der klassischen Novellenform vor. Das "unerhörte Ereignis" ist hier kein Wendepunkt, sondern bildet das magnetische Zentrum der Geschichte – jeder Schritt und jede Geste der Hauptfigur bleibt darauf bezogen.
Margriet de Moor knüpft an die Tradition des Realismus an und arbeitet mit einer subtilen Psychologie, die sich über die Sprechweise und das Verhalten ihrer Figuren vermittelt. Der schwebende Charakter von Schlaflose Nacht Geschichte hat etwas Betörendes – ohne aufzutrumpfen, erzählt sie vom Geheimnis des Lebens.

Margriet de Moor: Schlaflose Nacht
Carl Hanser Verlag, München 2016
127 Seiten, 16 Euro

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