Manche Zeltstädte "sind längst Slums"

Moderation: Susanne Führer · 11.01.2013
Nach wie vor leben rund 350.000 Menschen in und um Haitis Hauptstadt Port-au-Prince in Zeltstädten, erklärt Journalist Eberhard Schade. Diese Dauerprovisorien seien an einigen Stellen zu Stadtteilen geworden. Vor allem auf dem Land gebe es aber durch Hilfsmaßnahmen nachhaltige Erfolge.
Susanne Führer: Die UNO hat das Erdbeben in Haiti vor drei Jahren als eine der schlimmsten Katastrophen bewertet, die es je gegeben hat. Die Bilanz: 250.000 Tote, über 300.000 Verletzte, Millionen Obdachlose - viele Menschen sind nach wie vor traumatisiert. Ein Drittel der Bevölkerung Haitis wurde von dem Erdbeben betroffen.

Mein Kollege Eberhard Schade reiste damals nach Haiti und war jetzt noch einmal dort und ist jetzt hier wieder bei uns im Studio angekommen. Hallo, Herr Schade!

Eberhard Schade: Hallo, guten Tag!

Führer: Wie sieht es denn aus in Haiti, heute, drei Jahre nach dem Beben?

Schade: Ja, in der Hauptstadt, Port-au-Prince, sind die Trümmer zum großen Teil weggeräumt, vor allem das Areal um den Präsidentenpalast. Dieses Bild des eingeknickten Palastes, der ja dem Capitol in Washington sehr ähnelt, ging ja damals um die Welt. Dort, ganz in der Nähe, stehen sogar Dixi-Klos auf Spielplätzen, und auch die Zelte auf dem Champs de Mars, das ist so etwas wie, ja, Haitis Boulevard, die sind weg.

Aber nach wie vor leben rund 350.000 Menschen in Zeltstädten in und um Port-au-Prince. Diese Dauerprovisorien, die sind an einigen Stellen längst zu Stadtteilen geworden. Manche sind längst Slums. Und was die Situation nicht leichter macht, spült jede neue Katastrophe immer mehr Menschen in die Hauptstadt.

Zuletzt war das Hurrikan Sandy, Ende Oktober, bei dem wieder 60 Menschen starben. Da war Haiti allerdings längst aus den Nachrichten verschwunden, und die ganze Welt blickte nach New York.

Führer: Nahezu die ganze Welt hat sich ja damals an den Hilfsmaßnahmen beteiligt für Haiti, also von Equatorial-Guinea über die EU, die USA bis zur Weltbank. Viele, viele Hilfsorganisationen sind ins Land gekommen - wie beurteilen Sie deren Arbeit?

Schade: Diese unglaubliche Welle der Solidarität hat dem Land natürlich vor allem unmittelbar nach dem Beben geholfen. Also für Tausende Menschen sind inzwischen Notunterkünfte, sogenannte Shelter gebaut worden, und das sind oft qualitativ bessere Unterkünfte, als sie die Haitianer vorher besessen haben. Das sind 14 bis 20 Quadratmeter große, aus Pressspanplatten gebaute Hütten, die auf einem Betonfundament stehen, also erdbeben- und hurrikansicher sind.

Es gibt vor allem auf dem Land wirklich auch sichtbare und nachhaltige Erfolge. Ich habe im Süden des Landes beispielsweise ein Projekt von der Welthungerhilfe gesehen, wo riesige, mit Steinen gefüllte Drahtkörbe aufeinandergestapelt wurden, und seitdem wird eine Siedlung eben nicht mehr regelmäßig überflutet. Und da kann man sagen, dass 30.000 Euro Hilfsgelder gut investiert worden sind.

Dann gibt es aber auch Projekte, also da traut man seinen Augen und seinen Ohren nicht. Wenn zum Beispiel diese Shelter direkt ans Meer gebaut werden oder in eine Schlucht und die Familien damit in einer Todesfalle sitzen. Also das ist unfassbar - beim nächsten Hurrikan.

Oder die Geschichte dieses Rappers Wyclef Jean und seiner mittlerweile abgewickelten Hilfsorganisation "Yele". Laut "New York Times" hat er Millionen Spendendollar nicht etwa für Projekte, sondern für teure Charterflüge und Beraterhonorare ausgegeben, und mittlerweile ermittelt dort die Staatsanwaltschaft.

Also jeder kennt leider auch solche Geschichten von schlechter und kosmetischer Hilfe. Und mit ein Grund für Geschichten wie diese ist, dass offenbar Tausende NGOs beim Aufbau des Landes auch konkurriert haben oder konkurrieren, viel parallel läuft oder gar nicht und ein Riesenchaos in der Abstimmung und in der Koordination herrscht, und das Geld oft gar nicht bei den lokalen Institutionen ankommt.

Führer: Haiti ist ja seit Jahrzehnten, um es mal jetzt sehr milde auszudrücken, mit seiner politischen Führung nicht gut gefahren. Welche Rolle spielt denn jetzt der Staat beim Wiederaufbau des Landes?

Schade: Der Staat in Haiti gilt als sehr schwach. 2004 war es das erste Mal seit Jahrzehnten, dass eine demokratisch legitimierte Regierung gewählt wurde. Und der derzeitige Präsident, ein Ex-Sänger, Michel Martelly, der benötigte allein fünf Monate für die Regierungsbildung. Martelly hat sich jetzt zwar vorgenommen, die Abhängigkeit von den Hilfsorganisationen zu verringern, aber es fehlt dieser Regierung am Überblick, am Durchsetzungsvermögen, diese Misswirtschaft zu bekämpfen.

Und in dieses Machtvakuum, da sind ja auch diese großen Hilfsorganisationen gesprungen, deshalb wird Haiti ja spöttisch auch Republik der NGOs genannt. Und am Rande einer Konferenz in Haiti hatte ich die Gelegenheit, mit einer Ex-Premierministerin zu sprechen, mit Michèle Duvivier Pierre-Louise, und - hören wir uns das vielleicht mal an.

Michèle Duvivier Pierre-Louise: "Die Weltbank hat Haiti einen Friedhof der Hilfsprojekte genannt, und genau das ist es. Du kommst, glaubst die Antwort zu haben, hast ein kleines Projekt hier, ein kleines dort, und nach ein, zwei Jahren bist du wieder weg. Und Du glaubst ernsthaft, dass die Leute im Land mit dem, was Du angefangen hast, weitermachen und es aufblühen lassen? Vergiss es! In der wirtschaftlichen und sozialen Situation, in der sich Haiti befindet, eine Gesellschaft, die regelrecht marginalisiert wurde und in der die Menschen jetzt für sich in Anspruch nehmen, endlich mitzureden und zu partizipieren - das braucht ganz einfach Zeit."

Schade: Ja, damit hat die Ex-Premierministerin die Situation im Land vielleicht ganz gut auf den Punkt gebracht.

Führer: Mein Kollege Eberhard Schade im Deutschlandradio Kultur über Haiti drei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben. Herr Schade, Sie haben von diesem schwachen Staat gesprochen. Gibt es denn so etwas wie eine funktionierende Bürger- oder Zivilgesellschaft?

Schade: Also eine koordinierte oder vernetzte Zivilgesellschaft, die neben den staatlichen Kräften wirkt, die gibt es auch nach der Einschätzung von Frau Pierre-Louise, die wir gerade gehört haben, nicht. Der Haiti-Kenner Hans Christoph Buch sagt, es gibt sehr wohl eine Zivilgesellschaft, und er meint damit natürlich Intellektuelle, es gibt Schriftsteller, es gibt Musiker. Haiti hat ja auch vor allem in den 50er-Jahren sehr viele Intellektuelle angezogen und angesprochen. Es gibt eine Kleist-Novelle, Graham Greene war da und hat dieses wunderbare Buch, "Die Stunde der Komödianten" geschrieben über die Duvalier-Diktatur. Mick Jagger war ein großer Haiti-Fan.

Zum Ende der Aristide-Zeit gab es mal so ein Momentum, wo sich viele Intellektuelle in Haiti, wonach sich viele Intellektuelle in Haiti heute sehnen. Da kamen Anwälte, Schriftsteller, Studenten und viele andere Bevölkerungsgruppen zusammen und schlossen so eine Art Sozialvertrag, der Regeln für gesellschaftliche Bereiche festlegen sollte. Und das, so hat mir eine Schriftstellerin erzählt, Kattly Maas, - verlief sich dann irgendwie im Sande. Wer sein Ziel erreicht hatte, hörte auf, sich zu engagieren, und am Ende standen die jungen Leute und das Volk wieder mit leeren Händen da.

Vielleicht zwei, drei Sätze zu Kettly Maas: Sie ist im Moment eine der bekanntesten zeitgenössischen Schriftstellerinnen in Haiti, und gerade erscheint in Frankreich ihr neuer Roman. Der spielt in einer dieser vielen Zeltstädte in Port-au-Prince, ist also hochaktuell, hochpolitisch. Und Maas sagt, dass die Situation in Haiti geradezu nach mehr Engagement seitens der Zivilgesellschaft schreit.

Kettly Maas: "Weil wir die Politik über eine so lange Zeit mit Blut und Mord und allem Schlechten in Zusammenhang brachten, haben wir das Feld denjenigen überlassen, denen das entweder egal war oder die einfach nicht kompetent waren. Es ist wichtig, dass man die Leute, die das Land führen, überwacht, ihnen sagt, wenn etwas nicht stimmt, wenn sie aufpassen müssen, sagt, was nicht akzeptabel ist und Vorschläge macht. Das ist es, was wir in Haiti jetzt unbedingt brauchen. Dabei geht es nicht um das nächste Jahr oder um die nächsten zehn Jahre, sondern um eine Generation von Menschen. Aber man muss jetzt anfangen."

Führer: Tja, ein eindrucksvoller Appell der Schriftstellerin Kettly Maas, aber wird er auch gehört?

Schade: Darauf hofft sie. Darauf kann man nur hoffen. Es gibt auch Impulse von außen, also beispielsweise gab es in der Zeit, als ich da war, eine Konferenz der Welthungerhilfe, die sich eben exakt diesem Thema widmete, dem Aufbau der Zivilgesellschaft. Kettly Maas hofft auch, dass sie damit all jene erreicht, die längst weg sind.

Also 70 Prozent der Haitianer mit Universitätsabschluss lebt im Ausland. Allein in Boston, sagte mir die Ex-Premierministerin, leben mehr Haitianer mit einem Doktortitel als in ganz Haiti. Und viele der Künstler, der Intellektuellen und Aktivisten kamen am 12.10. vor drei Jahren auch ums Leben, und bei jeder neuen Katastrophe blutet das Land mehr aus. Neue Intellektuelle verlassen die Karibikhalbinsel. Aber auf die setzt Kettly Maas:

"Die Haitianer in der Diaspora stellen eine wichtige Kraft für uns da. Wenn wir es schaffen, zusammenzuarbeiten, liegt das Problem bei uns, nicht bei Haiti oder der internationalen Gemeinschaft, sondern bei uns selbst. Ich glaube, dass unsere Situation nicht hoffnungslos ist. Wir müssen uns auf Haiti als Ganzes konzentrieren als ein Land, das es zu retten gilt. Ich glaube, wir sind in diesem Moment paradoxerweise bereits näher, als wir glauben.

Aber wir müssen viel leiden, um das zu begreifen. Weil wir, sobald wir den Boden erreicht haben, merken werden, dass wir ganz alleine da stehen."

Schade: Ja, es bleibt zu hoffen, dass sie recht behält mit ihrem Appell, dass sich da was tut.

Führer: Mein Kollege Eberhard Schade über Haiti drei Jahre nach dem Erdbeben. Und mehr über Haiti und auch von der Schriftstellerin Kettly Maas eben ein langes Gespräch geführt hat, können Sie morgen in unserer Sendung "Tacheles" hören ab 13:05 Uhr.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Eberhard Schade
Eberhard Schade© Deutschlandradio - Bettina Straub
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