''Man wollte uns brechen''

Von Matthias Günther · 11.02.2008
Das "Landesfürsorgeheim" in Glückstadt in Schleswig-Holstein wurde 1974 als letzte Einrichtung dieser Art in der Bundesrepublik geschlossen: Dort landeten Jugendliche schon wegen kleiner Delikte oder weil überforderte Eltern sie dorthin abschoben.
Sie arbeiteten sechs Tage in der Woche unentgeltlich und wurden regelmäßig misshandelt. "Man wollte uns brechen", sagen ehemalige Insassen, von denen viele noch heute an den Folgen leiden. Jetzt fordern sie Wiedergutmachung und eine Aufarbeitung der Geschichte derartiger Lager.

Vieles, was Otto Behnck im Landesfürsorgeheim Glückstadt erlebt hat, wird er nie vergessen. Zum Beispiel, als die Erzieher zu einer Strafaktion in den Schlafsaal der jugendlichen Insassen kamen:

"Die sind reingestürmt mit Hurra, also mit Schlagstöcken, und der Erzieher kam gezielt auf mein Bett zu, ganz gezielt, riss die Decke weg, hatte so 'nen Ledertotschläger, so 'nen kurzen Griff, und haute mir immer in den Unterleib rein, also zwei, drei vier Mal, schätze ich - ich hab das nicht gezählt –, und schrie dabei immer: Du Hund! Du Hund! Du Hund!"

Zur gleichen Zeit wie Otto Behnck war Frank Leesemann in Glückstadt. Er meint heute:

"Wieso es solche Einrichtung gab, Ende der 60er Jahre, das, das – wenn man das heute irgendwelchen Menschen erzählt, das glaubt gar keiner, die denken man spinnt."

Schon Kleinigkeiten reichten, um ins Heim zu kommen. Frank Leesemann war ein gestohlenes Mofa zum Verhängnis geworden:

"Also ich bin 1969 nach Glückstadt gekommen, nachdem ich mir eigentlich ein Mofa ausgeliehen hatte – das sage ich mal in Anführungsstrichen. Das hab ich aber am nächsten Tag an gleicher Ort und Stelle wieder zurückgestellt. Da hat man mich dann erwischt."

Frank Leesemann war erst 14 Jahre alt, als er vom Jugendamt Eckernförde in das Landesfürsorgeheim Glückstadt eingewiesen wurde.

"Wie ich da eingeliefert worden bin, da hab ich erstmal 'n Schock gekriegt. So etwas hab ich noch nie gesehen. Man kam durch eine Schleuse durch, die Türen waren abgesichert mit Doppelbart-Tresor-Schlössern, dann wurde man in einen Hof reingeführt mit ca. acht Meter hohen Mauern, also das sah von innen aus wie – wie 'ne Vollzugsanstalt."

Kein Wunder: das Gebäude mit den vergitterten Fenstern war im 19. Jahrhundert ein Zuchthaus. Von 1933 bis 1945 diente es als Arbeitslager für Häftlinge aus Schleswig-Holstein und Hamburg. Die Jugendlichen, die hier nach 1949 "erzogen" werden sollten, mussten die Anstaltskleidung des Arbeitslagers tragen. Sogar die Karteikarten aus der Nazi-Zeit wurden weiter verwendet. Auf der Karteikarte Z 1571 des damals 14-jährigen Frank Leesemann, der ein Mofa gestohlen hatte, steht: asozial, kriminell, kann sich der Gesellschaft nicht anpassen. Das Wort "Häftling" ist auf der Karteikarte durchgestrichen und handschriftlich durch "Zögling" ersetzt. Auch die Überschrift "Arbeitserziehungslager" ist gestrichen – darüber steht "Landessfürsorgeheim".

Otto Behnck war 1970 in das Heim in Glückstadt eingewiesen worden:

"Du hast Deine Zivilsachen abgegeben, Deine Privatsachen abgegeben, hast diese bescheuerten Holzlatschen bekommen, den Drillichanzug, die Wollsocken, einen Satz Unterhosen, und das war's, Ende, ´n Hemd, und im Winter gab's noch 'n Pullover."

Viele der Zöglinge, die er dort kennen lernte, gehörten seiner Meinung nach auf keinen Fall in ein Heim. Oft waren sie aus geringem Anlass dorthin gebracht worden, sagt er:

"Damals nannte man das auch schon Eierdiebereien: Zigaretten aus 'm Automaten geholt; 'ne Gartenlaube aufgebrochen, mal drin gepennt; Fahrrad geklaut und stehengelassen, zu Fuß weiter gegangen; oder mal mit dem Moped schwarz gefahren. Das hab ich auch mal gemacht. Waren ein paar Schläger drunter, klar, aber, puh, kriminell? Nee, das kann ich nicht als Kriminalität bezeichnen, was die Jungs auf dem Kerbholz hatten. Das ist meiner Meinung nach nicht so viel gewesen, dass man jemanden dafür in so eine Anlage, in so eine Einrichtung da einsperrt."

Otto Behnck hatte nicht einmal eine Eierdieberei auf dem Kerbholz. Seine Eltern hatten das Jugendamt Bad Oldesloe gebeten, ihn ins Heim zu stecken. Ein richterlicher Beschluss war nicht erforderlich – es reichte, dass die Eltern der Einweisung zugestimmt hatten:

"Die kamen angeblich mit meinem Lebenswandel nicht mehr klar. Dass ich mir 'ne Gitarre gekauft hab, dass ich in 'ner Band gespielt hab, dass ich versucht hab, mir etwas länger die Haare wachsen zu lassen. Mein Vater – das konnte der überhaupt nicht verstehen, da hat er überhaupt kein Verständnis für gehabt. Wenn das nach meinem Vater und nach meinem Ausbilder damals gegangen wäre, dann hätte ich alle 14 Tage zum Friseur gemusst."

Da war er 19 Jahre alt – nach damaligem Recht noch nicht volljährig. Er lebte in einer Wohngemeinschaft, schwärmte für Jimmy Hendrix und die Rolling Stones. Er hatte seine Lehre abgebrochen und war einmal heimlich nach Dänemark getrampt. Das reichte seinen Eltern:

"Aufgegriffen oder festgenommen oder verhaftet, wie immer man das nennen mag, bin ich bei meinen Eltern zu Hause. Als ich meine Eltern besucht habe, um eine für mich dort per Postanweisung eingegangene Lohnsteuerrückzahlung abzuholen."

Seine Mutter hatte die Polizei gerufen. Er wurde festgenommen und nach Glückstadt gebracht worden. Dort sollte er sich "bessern":

"Wir sind um 6 Uhr 30 – glaube ich – geweckt worden. Das war alles geregelt. Vom Bettenbau bis zur Arbeit führen, Mittagspause runterführen, Essen, Arbeitsschluss und dann wieder Einschluss – Einschluss 19 Uhr, also eine Stunde nach Arbeitsschluss oder eineinhalb Stunden – dann war wieder Einschluss in den Schlafräumen."

Und um 21 Uhr 30 wurde das Licht ausgemacht. Die Zöglinge mussten sechs Tage in der Woche von morgens bis abends unentgeltlich im Akkord arbeiten. Frank Leesemann war unter anderem zum Fischernetze-Knüpfen eingeteilt.

"Da sind wir schon ganz schön misshandelt worden und mussten in Anstaltsklamotten dort rumlaufen. Ich musste ein Hemd tragen, da war ein rotes Dreieck drauf genäht, das war ein altes KZ-Arbeitshemd noch aus dem letzten Krieg und, ja, wir mussten da arbeiten, schuften, bis zum Umfallen. Dafür haben wir kein Geld gekriegt, sondern Zigaretten."

Die Arbeit war hart, aber das war es nicht, was ihnen am meisten zu schaffen machte, sagt Frank Leesemann:

"Zum Teil wurden wir auch geschlagen, man wollte uns ja irgendwie – na ja, so dass man mit 'nem gebeugten Rückgrat durch die Gegend läuft. Ich hab mir das nicht gefallen lassen, ich bin stets aufrecht gegangen, da haben die sich natürlich die Zähne ausgebissen, und die haben dann ihre Wut an den Zöglingen ausgelassen. Wir wurden da getreten, geschlagen, nicht von allen, aber von einigen. Ein Erzieher, das war ein Box-Trainer, der hat ganz gern mal zugeschlagen, der wusste auch wohin. Ja, da gab's natürlich unter den Zöglingen auch Streit, und da sind die dann gar nicht zwischen gegangen, also das Anstaltspersonal. Die haben sich dann blutig geschlagen auf dem Hof und getreten und gewürgt, was weiß ich, und das musste man alles untereinander ausmachen."
Otto Behnck fasst die Lebensumstände im Landesfürsorgeheim Glückstadt so zusammen:

"Im Grunde genommen war das ein ständiger Kampf, täglicher Kampf, selber nicht Opfer zu werden, also selber aufs Maul zu kriegen, auf Deutsch gesagt. Man musste sich irgendwie behaupten und durchsetzen da. Und die Schwächeren haben – auf Deutsch gesagt – die Arschkarte gezogen da."
Mindestens 7000 Jugendliche im Alter von zwölf bis 21 Jahren haben von 1949 bis 1974 das Landesfürsorgeheim Glückstadt von innen kennengelernt. Ihre Akten sind im Landesarchiv noch vorhanden. Für viele Insassen lag der Gedanke nahe, aus dem Heim zu fliehen. Aber es war nicht leicht, aus dem Gefängnisgebäude zu entkommen. Für Otto Behnck ergab sich die Chance, als er gemeinsam mit anderen Zöglingen zum Kreiswehrersatzamt zur Musterung gebracht worden war.

"Ja, ich hab mich dann zum Austreten abgemeldet, bin dann auf die Toilette und ich glaube, es war der zweite oder der dritte Stock, ich bin durchs Toilettenfenster und dann am Fallrohr, Regenrinne, runtergerutscht und Gott sei Dank war ein Sandhügel unten am Boden."
Er schaffte es, per Anhalter nach Hause zu kommen – aber dort wartete schon die Polizei auf ihn.

"Ich wusste genau, was passiert, wenn man wieder reinkommt nach dem Abhauen. Dann gab's Bunker. Das war Horror."

Der Bunker – das war Isolationshaft:

"Also man kam da nicht raus. Das war 'ne kleine Zelle mit 'ner Pritsche, wo morgens die Matratze raus genommen wurde. Dann war 'n Tisch da und 'n Stuhl, da gab's nicht zu Lesen, da gab's gar nichts. Null. Schön sitzen. Tag und Nacht."

Otto Behnck erinnert sich an einen weiteren gescheiterten Fluchtversuch: Sie wollten sich aus dem Fenster in den Innenhof abzuseilen, in der Hoffnung, von dort schon irgendwie weiter zu kommen. Einer von ihnen stürzte ab und verletzte sich schwer. Die Strafe für die ganze Gruppe war härter als der Bunker. Sie kamen in die sogenannte Box:

"Wir sind alle rausgescheucht worden, barfuß, im Schlafanzug, nur so 'ne scheißgraue Wolldecke über 'n Rücken, und dann sind wir runtergeführt worden und in die Box rein. Das ist noch schlimmer wie die Bunkerzelle. Das ist ´n Gitterkäfig. Das hieß, da kommen die ganz Renitenten rein, also die richtig aufsässig sind. Das ist 'n kleiner Käfig, und mit der ganzen Gruppe mussten wir rein. Ich glaube, wir waren zwölf, 14, 16 Mann, und haben da drin gestanden, die ganze Nacht barfuß auf dem Betonfußboden. So Stunden vergehen da wie Jahre, wenn man da unten steht, nachts. Und das im Januar. Das war arschkalt."

Auch das wird Otto Behnck, der nur drei Monate in dem Heim war, nicht vergessen. Man wollte sie fertigmachen, man wollte sie brechen, sagt er:

"Das ist einfach Demütigung – das ist einfach demütigend gewesen."

Das ist 37 Jahre her. Otto Behnck wurde Markthändler in Kiel, Frank Leesemann hat einen Drehorgel-Verleih, ebenfalls in Kiel. In den vergangenen Jahrzehnten sind sich beide immer wieder einmal begegnet. Darüber, wie sehr ihnen die Zeit in Glückstadt noch immer zu schaffen macht, haben sie aber bis vor kurzem nie miteinander gesprochen.

"Wir wollten uns nie das eingestehen, also ich auch nicht. Mittlerweile hab ich ja schon ein paar Mal geheult deswegen. Aber an und für sich haben wir uns immer auf die Schulter geklopft und haben gesagt, Mensch, wir sind doch gut raus gegangen da. Das war das Verdrängen. Der Mensch lässt sich ungern demütigen. Und ich und einige meiner Kollegen gar nicht. Wenn meine Familienangehörigen da mal mit angefangen haben, dann hab ich gesagt: lass, wechseln wir mal das Thema."
Im Herbst 2006 hatte Otto Behnck dann einen Termin beim Jugendamt. Es ging um den Unterhalt für seine jüngste Tochter. Der Befehlston einer Beamtin erinnerte ihn an die Zeit in Glückstadt:

"Es war ein Montag, wahrscheinlich hat sie schlechte Laune gehabt, vielleicht war ich ihr auch 'nen Tick zu arrogant, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall gerieten wir sozusagen aneinander, und sie sagte dann zu mir, als ich dann meine Einkommensteuer-Bescheide hinlegte: Das darf ja wohl nicht wahr sein, das ist ja viel zu wenig, was Sie verdienen, Sie suchen sich 'ne andere Beschäftigung, Sie suchen sich 'ne andere Arbeit, wo Sie mehr verdienen, und Sie schreiben mir zehn Bewerbungen, und Sie bringen mir auch die Absagen auf diese Bewerbungen, und legen die mir hier auf den Tisch! – So in etwa lief das ab. Und da hab ich gedacht: Peng, was ist das für'n Ton! Ich hab die Frau nur angeguckt, ich hab Sodbrennen bekommen, musste aufstehen, mir kam echt die Galle hoch, und ich sag: Verdammt noch mal, ich komm aus Glückstadt, reden Sie nicht so mit mir! Das war …, das war …, das war: Klick. Da hat einer aufs Knöpfchen gedrückt."

Jetzt wollte Otto Behnck das Erlebte aufarbeiten. Er wollte wissen, was in Glückstadt wirklich geschehen ist – und warum. Über das Internet machte er sich auf die Suche nach Zeitzeugen und Dokumenten. Gemeinsam mit Frank Leesemann setzte er sich mit anderen ehemaligen Heiminsassen in Verbindung. Und sie wandten sich an die Landesregierung. Schleswig-Holsteins Sozialministerin Gitta Trauernicht kannte die Problematik der Erziehungsheime der 50er und 60er Jahre, und sie wusste auch, dass die letzte derartige Einrichtung in Deutschland, das Jugendfürsorgeheim im schleswig-holsteinischen Glückstadt, erst 1974 geschlossen wurde – nach einer Revolte in dem Heim und auf politischen Druck hin.

"Es hat überall Einrichtungen gegeben, die junge Menschen zum Teil aus Bagatell-Gründen, zum Teil aber auch aus schwerwiegenden Gründen betreut haben, diese Betreuung aber schon damals nicht den Anforderungen an eine Ertüchtigung eingelöst haben, sondern zum Teil erniedrigend waren, zum Teil mit Gewalt verbunden waren, in jedem Fall ihre Aufgabe und ihren Zweck, verfehlt haben, Menschen zerstört haben."

Die Ministerin kam der Bitte der ehemaligen Heiminsassen nach, bei einem Treffen über die Umstände in Glückstadt zu sprechen.

"Ich hab mit ihnen gemeinsam ein Gespräch geführt, ich war sehr beeindruckt von ihren Schilderungen, von ihrer Ernsthaftigkeit. Die Menschen sind zum Teil erst jetzt in der Lage, ihre Geschichte, ihre Demütigungen, ihre Verzweiflung auch preiszugeben. Sie haben sie zum Teil selbst vor Ehefrauen, vor Bekannten und Freunden geheim gehalten, und haben sich geschämt. Darüber sprechen zu können ist eine Erleichterung. Das möchte ich ihnen ermöglichen. Darüber auch sprechen zu können mit einer Repräsentantin der Politik, die das ja auch damals zu verantworten hatte, will ich ihnen auch ermöglichen – ich will mich nicht wegdrücken."

Frank Leesemann hofft, dass der Kontakt zur Landesregierung auch zu irgendeiner Anerkennung oder zu einem Ausgleich für das Erlittene führt:

"Wir möchten eine Entschuldigung haben vom Land Schleswig-Holstein in Form – ja, ich hab 'n Vorschlag gemacht bei Frau Dr. Trauernicht, in Form einer Urkunde mit so 'nem Prägestempel drin, Schleswig-Holstein-Wappen, dass die sich bei uns entschuldigen. Ja, und dann wären wir natürlich auch scharf irgendwie auf 'ne Abfindung."

Nicht nur wegen der Misshandlungen und Demütigungen erwarten die ehemaligen Insassen des Landesfürsorgeheims Glückstadt einen Ausgleich:

"Wir haben da ja Fischernetze geknüpft, wir haben Friedhofsarbeiten gemacht, Gräber ausgehoben, in der Papierfabrik haben wir gearbeitet – und alles ohne Lohn. Das wurde behalten. Das hat sich diese Institution unter den Nagel gerissen. Denn die sind entlohnt worden, von den Firmen. Das möchten wir, dass das nachgezahlt wird."

Der Lohn ebenso wie die Rentenbeiträge. Die Schäden, die sie in dem Heim davon trugen, lassen sich aber mit Geld kaum wiedergutmachen, sagt Frank Leesemann:

"Die ganzen Zöglinge, wie wir damals genannt wurden im Amtsdeutsch, die leiden alle an den gleichen Symptomen wie zum Beispiel Schlaflosigkeit, Angstzustände, Herz-Kreislauf-Geschichten und vielerlei solcher Dinge. Viele sind auch nicht beziehungsfähig, die leben alleine – ich hab zum Glück Frau, Kinder und Enkel – und das ist zurückzuführen auf diesen Schock, den wir damals dort erlitten hatten."

Ministerin Trauernicht kann verstehen, dass die ehemaligen Heiminsassen eine Entschädigung erwarten – sie selbst will es denn auch nicht bei verständnisvollen Worten belassen, sagt sie:

"Ich möchte darüber hinaus Hilfestellungen geben. Das wird in einem bestimmten, begrenzten Umfang als Landesministerin möglich sein, aber die Frage der Rentenansprüche, der Entschädigungen, des Entschädigungsrechts, das ist eine Bundesfrage, die auch auf Bundesebene zu klären sein wird."

Mit der Frage der Entschädigung befasst sich seit Monaten der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages – wann er seine Empfehlung abgibt, ist offen. Der Aufarbeitung der Geschichte des Landesfürsorgeheimes in Glückstadt hat sich Schleswig-Holsteins Sozialministerin Trauernicht angenommen:

"Ich möchte jedenfalls gemeinsam mit den ehemaligen Heimzöglingen Öffentlichkeit herstellen, auch über eine Ausstellung, über eine Studie, um zu mahnen, dass so etwas nie wieder vorkommen soll, denn der Auftrag der Gesellschaft, junge Menschen zu ertüchtigen, die diese Unterstützungsmöglichkeiten in ihrer eigenen Familie nicht hatten, ist ein sehr ernsthafter Auftrag. Und wenn dieser jedenfalls zum Teil dazu geführt hat, dass die Menschen eher zerstört als dass sie gefördert wurden, dann ist das eine ganz schlimme Geschichte."

Ministerin Trauernicht hat Pädagogik-Professor Christian Schrapper von der Universität Koblenz, einen Experten auf dem Gebiet der Jugendhilfe, damit beauftragt, die Geschichte des Landesfürsorgeheims Glückstadt zu untersuchen. Schrapper hat dazu schon die rund 7000 Akten im Landesarchiv gesichtet und bestätigt die drastischen Schilderungen der ehemaligen Insassen. Diese erhoffen sich von der Aufarbeitung der Geschichte des Heims Antworten auf viele offene Fragen. Otto Behnck möchte unter anderem wissen, ob das Heim außer der Anstaltskleidung und den Karteikarten vielleicht auch das Personal des Arbeitslagers aus der Nazi-Zeit übernommen hat:

"Ich hoffe nicht, dass die ersten Jungs, die da als Fürsorge-Zöglinge eingesperrt worden sind, noch von dem Personal da betreut worden sind. Ich weiß es nicht. Es waren ja auch Beamte. Ich hab keine Ahnung. Ich hoffe es nicht."

Und noch etwas bewegt sie, sagt Frank Leesemann:

#"Wir wollen natürlich auch Informationen haben, wie viel Kinder oder Jugendliche dort drin ums Leben gekommen sind. Viele haben Suizid verübt dort, weil sie das nicht mehr ausgehalten haben, ja, der letzte, das war Hans Baier."

Hans Baier soll nach Glückstadt gebracht worden sein, weil er die Schule schwänzte. In dem Heim war er Bettnachbar von Otto Behnck:

"Der hat sich kurz nach meiner Entlassung das Leben genommen. Der hat sich aufgehängt. 15, 16 Jahre alt war der. Ich hab den persönlich gekannt, weil, der lag neben mir, der schlief neben mir. Das war ein harmloser Bengel. Ich habe den persönlich in Schutz genommen. Der wurde auch gehänselt, weil er immer ins Bett gemacht hat – war 'n Bettnässer. Ja das macht mich heute noch ganz besonders traurig. Der Typ, der hat nichts auf dem Kerbholz gehabt. Null. Gar nichts. Der hätte nur 'n anständigen Vater gebraucht und 'ne anständige Mutter. Die Erzieher da waren ihm kein Vater. Im Gegenteil. Haben ihn fertig gemacht."

Die ehemaligen Insassen wollen auch wissen, ob es stimmt, dass ein Jugendlicher, der in der Landwirtschaft arbeiten musste, erschossen wurde. Nach Informationen, die Frank Leesemann erhalten hat, soll es sich so abgespielt haben:

"Der ist auf der Flucht erschossen worden – von einem Bauern, der diese Landwirtschaft betrieben hatte. Er sollte angeblich die Leute angegriffen haben, was nicht stimmte. Der hat sich einfach ergeben mit erhobenen Händen. Und dem hat man einfach mit einer Jagdflinte in den Kopf geschossen. Und das ist irgendwie unter den Teppich gekehrt worden und es ist nicht an die Öffentlichkeit heraus getragen worden."
Frank Leesemann will wissen, ob das zutrifft – und ob irgendjemand dafür zur Rechenschaft gezogen worden ist. Die Aufarbeitung der Geschichte des Glückstädter Heims soll auch Klarheit darüber bringen, warum das Heim erst 1974 geschlossen wurde, obwohl die Zustände schon Ende der 60er Jahre öffentlich kritisiert worden waren. Zustände, die Otto Behnck schon damals auf gar keinen Fall für geeignet hielt, junge Menschen zu erziehen – im Gegenteil:

"Da ist man kriminell geworden – also in dem Laden hat man den letzten Schliff gekriegt, wenn man es vorher noch nicht richtig war."

Otto Behnck kann sich nicht einmal an Ansätze einer Erziehung im Landesfürsorgeheim Glückstadt erinnern:

"Vom Tage meiner Einlieferung an hat mich nicht ein einziger Erzieher gefragt, weder die Heimleitung noch der damalige Psychologe, nicht gefragt oder angesprochen: warum bist du eigentlich hier? Nicht einer!"

Sehr aufmerksam verfolgt Otto Behnck die aktuelle Diskussion über den Umgang mit kriminellen Jugendlichen. Er hat sich viele Gedanken darüber gemacht, wie man sie behandeln sollte, um sie auf den rechten Weg zu bringen:

"Also nicht mit Einsperren und Druck. Das geht absolut nicht. Das geht nach hinten los. Die Gesellschaft muss ihnen vorleben, dass es sich lohnt, in dieser Gesellschaft zu leben, für diese Gesellschaft sich einzusetzen. Politiker tun es nicht. Da kommt Herr Koch, der kommt und sagt, ja, sperren wir ein. Toll. Müssen eingesperrt werden, müssen diszipliniert werden, hart angepackt werden. Und das meine ich, was fehlt, dass wirklich Menschen auf diese jungen Menschen zugehen und sie auch so behandeln, mit Respekt und Anstand."

Dass Jugendliche, die lediglich aufmüpfig sind, eingesperrt werden, um sie zu disziplinieren, ist hierzulande Vergangenheit. Und auch für tatsächlich straffällig gewordene Jugendliche soll es jedenfalls in Schleswig-Holstein auch in Zukunft keine Straflager geben. Gerade hat der Landtag ein neues Jugendstrafvollzugsgesetz beschlossen, das viel Wert auf die Betreuung der Jugendlichen legt. Das stellt große Anforderungen an das Personal, sagt Justizminister Uwe Döring:

"Jugendliche, die in Haft sind, müssen eine Ausbildung bekommen, sie müssen berufliche Fertigkeiten erlernen, damit sie hinterher ihren Lebensunterhalt auch selbst verdienen können. Wir haben darüber hinaus verpflichtende Sportangebote, um Aggressionen abzubauen, wir haben ein Anti-Aggressionstraining; wir haben darüber hinaus auch geregelte Freizeit, das heißt, Freizeit, die gestaltet wird. Das ist eines der Hauptprobleme. Viele der Taten sind in der Freizeit geschehen, weil Jugendlich damit nichts vernünftig damit anfangen können. Neu ist dabei, dass wir auch eine Sozialtherapie einrichten werden, in denen Jugendliche betreut werden, das haben wir bisher im Bereich des Jugendstrafvollzugs nicht. Das führt allerdings auch dazu, dass Strafvollzug bei Jugendlichen teurer wird. Ich brauche mehr Personal und ich brauche mehr Sachmittel."

Die Mittel dürfte er wohl bekommen, schließlich ist das neue schleswig-holsteinische Jugendstrafvollzugsgesetz mit den Stimmen der Großen Koalition von CDU und SPD beschlossen worden.