"Man konnte auf Mao alles Mögliche projizieren"

Moderation: Jürgen König · 07.11.2005
Der Historiker Gerd Koenen erklärt sich die Begeisterung der 68er-Bewegung für Mao und die Kulturrevolution damit, dass er eine große Projektionsfläche für die eigenen politischen Ideale bot. Das maoistische China wirkte wie ein "Champion der Dritten Welt". Inzwischen halte er Sozialismus und Kommunismus aber für "historische Begriffe des 20. Jahrhunderts", sagte Koenen.
Lesen Sie hier einen Auszug aus dem Interview mit Gerd Koenen:

König: Mao Tse Tung war weniger Marxist als vielmehr ein von Besessenheit getriebener Opportunist. "Dem Volke dienen!", war eine seiner Parolen, aber: Nicht das Wohl seines Volkes lag dem Staatspräsidenten und Großen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas am Herzen, nicht die kommunistische Ideologie, das Motiv von Maos Handeln war ausschließlich und zu jeder Zeit sein absoluter Wille zur Macht, schreiben Jung Chang und Jon Halliday in ihrem Buch "Mao/Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes", eine detailliert belegte Dokumentation von Maos Schrecken. Über 70 Millionen Tote habe er zu verantworten, er sei "ein blutrüstiger Egomane, der auf Massenmord abzielte, auf Dominanz der Gehirne, auf sadistischen Voyeurismus im Verfolgen der Feinde, auf pathologische Promiskuität".

Dieses Buch hat sehr viel Aufsehen erregt - und man fragt sich unwillkürlich: Wie empfinden diejenigen dieses Buch, in deren Leben Maos Ideen eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben. Zum Beispiel der Historiker und Politikwissenschaftler Gerd Koenen, der "vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund bis zu den maoistischen Zirkeln und Parteiinitiativen der 70er Jahre das volle Programm des linksradikalen Aktivismus absolvierte" - so steht es in seinem Buch "Das Rote Jahrzehnt - Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-77".

Sie haben die Mao-Biographie von Jung Chang und Jon Halliday gelesen. Was sagen Sie dazu?

Koenen: (… )Das Buch ist in der Fülle seiner auf die Person bezogenen Materialien überwältigend und in der Hinsicht ist es auch neu. Das hat so bislang noch niemand machen können, so die Leute zu befragen, wie diese chinesische Autorin es tun konnte. Wir haben ja über Mao bisher keine Archivarien. Die chinesischen Archive sind ja viel verschlossener als es die sowjetischen, post-sowjetischen sind. Das Material ist neu, die Interpretation finde ich schwach.
König: Warum? Mao wird auf das "Monster" reduziert?

Koenen: Warum konnte er wirken, warum hatte er Wirkung auf Leute? Unter welchen historischen Bedingungen kann jemand, der von mir aus eine solche persönliche Struktur hat, eine solche Macht akkumulieren. (…) Wenn wir die Persönlichkeit mal nehmen, so wie sie da geschildert wird, dann wäre das das zu Erklärende, warum funktioniert das?

König: Wird das hinreichend belegt?

Koenen: Dass er ein blutrünstiger Egomane ist, wird vielleicht hinreichend belegt, aber als Historiker sage ich: Das erklärt mir die Sache nicht. Blutrünstige Egomanen hat es genug in der Geschichte gegeben, warum kann jemand über 50, 60 Jahre eine solche Spur in der Geschichte eines Landes hinterlassen? Das ist das eigentlich zu Erklärende.

König: Machen wir doch einen Sprung zurück in die 70er Jahre und wie Sie sie erlebt haben: Ihr Buch "Das rote Jahrzehnt", erschienen 2001 bei Kiepenheuer & Witsch, es bietet die erste zusammenhängende Darstellung des politischen Radikalismus der 70er Jahre. Sie schreiben über den Maoismus als einer internationalen Jugendstimmung, selbst Brigitte Bardot posierte im Mao-Look - woher kam dieses Begeisterung der Studenten für Mao?

Koenen: (..) Man muss von uns selber ausgehen: Wir suchten etwas, wir hatten uns in eine radikale Oppositionsstellung zu dieser Gesellschaft begeben, und dann suchte man sich seine Referenzen. Der Charme des Maoismus bestand erstens darin, dass zu der Zeit die Kulturrevolution lief, im Grunde ein blutiger Bürgerkrieg, den man sich aber zurechtstilisieren konnte als einen Aufstand der Jugend gegen die Alten. Das andere Thema war, dass das maoistische China als der "Champion der Dritten Welt" erschien, das schien auch ein Ausbruch aus dieser Ost-West-Verklammerung, die man hier in Deutschland ja besonders stark spürte. Also konnte man auf Mao und das maoistische China alles Mögliche projizieren. (…)

König: Mao war "zu Ihren Zeiten" schon ein alter Mann, sprach und schrieb im Tonfall penetrant paternalistisch, trat optisch wie ein Übervater auf, winkte von der Tribüne herab - wie konnte so jemand zum Idol einer antiautoritären Bewegung werden?

Koenen: Die Ansprachen Maos (…) Das war ja nicht unsere Sprache eigentlich. Aber nan konnte es sich trotz allem für sich zurechtlegen als Ansprache eines alten Revolutionärs an die Jugend, die das Recht hat zu revoltieren. Rebellion ist gerechtfertigt. (…)

König: Was einen ja so frappiert, ist die Einseitigkeit der Mao-Rezeption, dass er als Idol der Jugend angenommen und verehrt wurde, dass aber die Schrecken seiner Politik bis hin zur Kulturrevolution nicht gesehen wurde? Wie war das möglich, dass das Terroristische seines Wesens so völlig ausgeblendet wurde?

Koenen: Das ist ein älteres Phänomen. Der Kommunismus hatte immer seine westlichen Fellow Traveller, die sich aus dem hohen idealistischen Anspruch dieser Bewegung… da ging es um die Befreiung der Menschheit, da ging es um die höchsten moralischen Titel. Auch in der Zeit des stalinistischen Massenterrors, haben sich viele westliche Intellektuelle diese kommunistische Bewegung selber schön gelogen und gehofft, dass dort die große Alternative ist zu der Gesellschaft, in der man sich selbst befindet.
(…)

König: Zu was taugen Begriffe wie Sozialismus und Kommunismus heute noch?
noch anwendbar für neue, zukünftige Gesellschaftsmodelle?

Koenen: Ich nehme sie schon als historische Begriffe. Das, was ich mir an Gesellschaftsveränderung vorstellen würde, würde ich nicht in diesen Kategorien beschreiben wollen. Es sind historische Begriffe, die wie Kommunismus eine historische Phase des 20. Jahrhunderts beschreiben, von 1917 bis 1989. Und zu 1989 muss man durchaus auch die Tiananmen-Zwischenfälle in China rechnen. Zum heutigen China würde Mao sagen, es befindet sich auf dem kapitalistischen Weg. Auch in China hat trotz der weiterhin regierenden kommunistischen Partei ein Umbruch stattgefunden.

König: Der Politikwissenschaftler und Historiker Gerd Koenen - sein Buch "Das Rote Jahrzehnt - Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-77" ist 2001 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, im letzten Jahr als Fischer-Taschenbuch, 550 Seiten hat es, kostet 12,90 €. Die Biographie Jung Chang und Jon Halliday: "Mao/ Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes" erschien jetzt im Karl Blessing-Verlag, Aus dem Englischen von Ursel Schäfer, Heike Schlatterer, Werner Roller. 976 Seiten hat das Buch, kostet 34,00 Euro.