Man kann niemand zwingen, "sich unter den Hirnscanner zu legen"

Hans Markowitsch im Gespräch mit Dieter Kassel · 05.04.2012
Man könne das Gehirn eines Verbrechers durch eine Therapie verändern und die Tendenz zur Delinquenz wieder verschwinden lassen, meint Markowitsch, Psychologieprofessor an der Universität Bielefeld. Wenn man die Umstände ändere, sei eine gesellschaftliche Integration wieder möglich.
Dieter Kassel: Die Psychologie, die Soziologie, die Rechtswissenschaft und die Philosophie, sie alle beschäftigen sich mit der Frage, was Menschen dazu bringt, grausame Verbrechen zu begehen, sich wie Monster zu benehmen. Die erstaunlichsten Antworten auf diese Frage gibt inzwischen aber die Neurowissenschaft. Höchste Zeit auch für uns, uns in unserer Themenwoche der Frage zu widmen, ob das Böse oder - etwas wissenschaftlicher ausgedrückt - die Veranlagung für Grausamkeit und Gewalt im Gehirn steckt, und wenn ja, wo genau man sie da finden will?

Genau dieser Frage gehen wir jetzt nach mit Hans Markowitsch, er ist Professor für physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld und Autor des Buches "Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens". Schönen guten Morgen, Herr Markowitsch!

Hans Markowitsch: Guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Fangen wir doch mal sehr konkret an: Gibt es denn Fälle, in denen man nachgewiesen hat, dass Veränderungen im Gehirn die Ursache oder zumindest eine sehr wahrscheinliche Ursache für gewalttätiges Verhalten war?

Markowitsch: Also, es gibt inzwischen sicher Hunderte von Beispielen, wo man, wie wir sagen, korrelative Zusammenhänge gefunden hat. Also wenn auf der einen Seite eine Hirnveränderung da ist, dass dann auf der anderen Seite eine Verhaltensänderung auftritt. Man hat fast regelhaft gefunden, wenn Veränderungen im Stirnhirn, besonders an der Hirnbasis, also von unten auftreten, dass das zu Persönlichkeitsänderungen führen kann.

Die können mal stärker, mal weniger stark ausgeprägt sein. Wir vermuten, weniger stark dann, wenn beispielsweise die Person durch ihre Lebensgeschichte, durch Umweltereignisse doch dazu gebracht worden ist, ein Rechtsbewusstsein sich zu erhalten. Umgekehrt gibt es Variablen, dazugehört dann auch eine mögliche genetische Prädisposition, also ein Gen Allel, was eher aggressiv macht zum Beispiel, die eine Hirnschädigung verstärken können und dann möglicherweise eher zu delinquentem Verhalten führen.

Kassel: Es gibt inzwischen Hunderte von Beispiele, haben Sie gesagt.

Markowitsch: Ja.

Kassel: Nennen Sie doch vielleicht ein oder zwei besonders anschauliche?

Markowitsch: Ja, also, in den letzten Jahren war ein Beispiel, was mir da recht gut gefällt von der Seite, wie die Änderung zustande kam und dann wieder wegging: Ein Lehrer in den USA, der plötzlich sich an seinen eigenen Kindern sexuell verging, pädophil wurde, verurteilt wurde. Und kurz bevor er dann ins Gefängnis kam, wurde er noch mal auf sein Hirn hin untersucht, weil er die ganze Zeit über sehr starke Kopfschmerzen klagte. Und man fand dann, dass in seinem unteren vorderen rechten Stirnhirnbereich ein sehr großer Tumor gewachsen war.

Nachdem der dann erfolgreich entfernt worden war, sind seine pädophilen Tendenzen wieder verschwunden. Er ist dann auch wieder zu seiner Familie zurückgekehrt, die ihn auch wieder aufgenommen hat. An dem Beispiel kann man also recht deutlich sehen: Der Tumor hat das Fehlverhalten sozusagen induziert, die Entfernung des Tumors hat dann das Fehlverhalten auch wieder zum Erlöschen gebracht. Man muss jetzt auch vorsichtig sein mit der Generalisierung. Also, man kann jetzt nicht sagen, jeder, der einen Stirnhirnschaden hat, ist im Verhalten in Richtung Persönlichkeitsabweichung Delinquenz abweichend.

Wie gesagt, es gibt da noch korrigierende Faktoren, es gibt die Lebensgeschichte, es gibt die Genetik und es gibt die gegenwärtigen Lebensumstände, die letztendlich im Zusammenwirken bedingen, ob jetzt eher eine Neigung zu Delinquenz rauskommt oder nicht. Man kann allerdings - und das sind auch wieder neue Ergebnisse - zeigen, dass selbst schon bei Kindern, die kaltherzig, unsozial wirken, Veränderungen auf Hirnebene nachweisbar sind.

Und man kann dann aber auch daraus wieder ableiten, wenn man die Veränderungen rückgängig macht oder das Gehirn durch entsprechend positive Umwelteinwirkung, sprich, Therapie, verändert, dass dann auch die Tendenz hin zu Delinquenz wieder verschwinden kann.

Kassel: Wir reden heute Vormittag im Deutschlandradio Kultur in unserer Themenwoche "Das abgrundtief Böse" mit dem Hirnforscher Hans Markowitsch über die Frage, inwieweit die Veranlagung zu Gewalt, auch zur Straftat, im Gehirn angelegt ist. Und Herr Markowitsch, Veranlagung habe ich jetzt gesagt. Inwiefern habe ich denn da das Richtige gesagt? Ich frage mal ganz konkret: Wenn jemand die entsprechenden Hirnveränderungen hat, die Sie zum Teil schon beschrieben haben, muss er dann gewalttätig und zum Verbrecher werden, oder hat er noch eine Wahl?

Markowitsch: Er muss es nicht. Aber ob er eine Wahl hat, ist auch wieder aus meiner Sicht infrage zu stellen. Das heißt, ich würde sagen, die Genetik, die lebenslang gemachten Erfahrungen, angefangen vorgeburtlich bis in die Gegenwart, die gegenwärtige Umweltsituation, alles bedingt, wie jemand sich im aktuellen Moment verhält. Zeigt dann aber auch: Die Person ist durch die genannten Determinanten vorbestimmt in dem, was sie letztendlich tun wird.

Kassel: Aber gibt es Ihrer Meinung nach zumindest in einigen Fällen Menschen, die quasi aufgrund ihres Gehirns als Verbrecher geboren werden?

Markowitsch: So weit würde ich nicht gehen. Also, da gab es schon um 1800 Leute, Lombroso, die das gemeint haben. Aber zum Verbrecher geboren, das ist ein bisschen sehr weitgehend. Also, das sagt auch gerade die Genetik, dass in den ersten Lebensjahren noch stark die Umwelt den Menschen beeinflusst und erst im späteren Leben dann die Gene mehr oder minder mit das Verhalten steuern. Aber ich würde jetzt eigentlich ausschließen, dass so was von Geburt an da ist, außer in Fällen schwerster Hirnschädigung.

Kassel: Was sagen aber die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema der Schuld, wenn jemand wirklich aufgrund einer Veränderung im Gehirn zum Beispiel zum Mörder wird? Ist er dann unschuldig?

Markowitsch: Ja, da ist die gegenwärtige Rechtsprechung nicht sehr eindeutig. Das heißt, es gibt zwei Paragrafen im Strafgesetzbuch, Paragraf 20, der von Schuldunfähigkeit ausgeht, wenn entsprechende Determinanten da sind wie jetzt sehr geringe Intelligenz, Unfähigkeit, sein Verhalten einzusehen und Weiteres. Und dann gibt es den Paragraf 21, der von verminderter Schuldfähigkeit spricht dann, wenn die Person jetzt im Zustand war - vielleicht wegen äußerer Zwänge, vielleicht wegen Drogeneinnahme -, nicht ausreichend Einsicht in das Tatgeschehen gehabt zu haben.

Ich sage aber, im Grunde muss man die Paragrafen auf jeden Straftäter anwenden, weil jeder Straftäter letztendlich determiniert ist durch seine Vorgeschichte, durch seine Genetik, durch die Lebensumstände, und deswegen gar nicht die Alternative gehabt hat, anders zu handeln, als er eben gehandelt hat. Das klingt jetzt sehr fatalistisch, bedeutet aber auf der anderen Seite auch: Wenn man die Lebensumstände ändert, wenn man korrigierend einwirken kann, wenn man bei der Kindererziehung schon frühzeitig bestimmte Determinanten forciert, andere weglässt, dann kann man Personen auch so verändern, dass sie von der Gesellschaft voll anerkannt werden und sich gesellschaftlich integrieren.

Kassel: Wir werden in unserer Themenwoche "Das abgrundtief Böse" heute Nachmittag nach den 14-Uhr-Nachrichten mit der Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen noch weiter über die juristischen Fragen, über die strafrechtlichen Fragen, die sich im Zusammenhang mit diesen Erkenntnissen stellen, reden. Aber ich möchte Sie, Herr Markowitsch, zum Schluss denn doch noch fragen, wie das alles in Zukunft aussehen könnte?

Sie haben jetzt gerade eben eher soziale Vorschläge gemacht, wie man sozusagen präventiv verhindern kann, dass jemand, der die Veranlagung zum Straftäter hat, auch wirklich zum Straftäter wird. Aber wenn die Hirnforschung in Zukunft vielleicht noch viel genauer als heute wirklich analysieren kann, was in dem Gehirn falsch läuft, damit jemand zum Straftäter wird, und wenn es viel sicherer als heute möglich ist, durch Operation so eine Veranlagung zu verändern, landen wir irgendwann in einer Welt, in der eigentlich jeder getestet wird auf diese Veranlagung, und wer bei diesem Test auffällig ist, wird zwangsweise operiert?

Markowitsch: Darüber wird ja schon heute diskutiert, was so die ethischen Implikationen sind der neurowissenschaftlichen Ergebnisse. Und da gibt es gerade auch in den USA schon Organisationen, die sagen, die Forschung sollte nicht weiter betrieben werden. Es gibt andere, die eben sagen, wir müssen uns zumindest als Gesellschaft bewusst werden, was von der Hirnforschungsseite aus möglich ist, und dann entsprechend Gesetze schaffen, entsprechend Richtlinien, was wollen wir, was wird von der Gesellschaftsseite her toleriert.

Und ich denke, man wird zumindest bei uns auch in Zukunft niemand zwingen können, sich unter den Hirnscanner zu legen und sein Gehirn ausmessen zu lassen. Da, denke ich, sind unsere Freiheitsrechte noch weit stärker, und da wird es auch in Zukunft vorerst zumindest bei bleiben.

Kassel: Na ja, aber das Pro ist klar: Rein theoretisch könnten wir uns damit eine Welt ohne Verbrechen schaffen. Und das Contra ist auch klar: Die Missbrauchspotenziale sind riesig.

Markowitsch: So ist es. Ich meine, es gab schon unter der Regierung von Tony Blair einen Gesetzentwurf, wo man gesagt hat, wir machen Tests für alle Fünf- bis Siebenjährigen, um zu erfassen, welche eine erhöhte Wahrscheinlichkeit haben später delinquent zu werden.

Das ist dann nicht durchgegangen als Gesetz. Aber es gibt andere Studien, die das dann beispielsweise auch bei Elf- bis 13-Jährigen gemacht haben, die vorhergesagt haben, wer von denen im Alter von 17, 18 straffällig werden wird, und da war dann eine Trefferrate von über 75 Prozent. Und wenn man denkt, da liegen noch rund fünf Jahre dazwischen, in denen alles Mögliche auf den Jugendlichen einwirken kann und sein Verhalten ändern kann, dann ist das schon eine hohe Trefferquote.

Insofern muss einfach die Gesellschaft sich überlegen: Was will sie, was soll gemacht werden und was nicht? Weil, in einer jetzt schönen neuen Welt zu leben, ist wahrscheinlich auch nicht das Ideal der meisten Menschen.

Kassel: Hans Markowitsch, Professor für physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld und Autor des Buches "Tatort Gehirn". Herr Markowitsch, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!

Markowitsch: Gerne!

Kassel: Informationen zu unserer Themenwoche über das abgrundtief Böse finden Sie natürlich auch im Internet. Dort können Sie unter anderem auch alle Gespräche, die wir dazu geführt haben und führen, noch einmal hören, unter www.dradio.de.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hans J. Markowitsch, Werner Siefer: Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens.
Hans J. Markowitsch, Werner Siefer: Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens.© Campus Verlag
Mehr zum Thema