"Man hat plötzlich Macht, und da kommen dann mediale Vorbilder"

Andres Veiel im Gespräch mit Susanne Burg · 04.04.2012
Die Monstrosität eines Mordes lade die Öffentlichkeit dazu ein, aus den Tätern auch Monster zu machen, sagt der Dokumentarfilmer Andres Veiel. Wenn man genauer hinschaue, sei aber oft das Erschreckende, dass die Mörder eine ganz normale Biografie hätten.
Susanne Burg: Potzlow, das ist ein kleines Dorf, etwa 60 Kilometer nordwestlich von Berlin, idyllisch gelegen in der Uckermark. Grausam und ungeheuerlich ist allerdings das, was in diesem brandenburgischen Dorf in der Nacht zum 13. Juli 2002 passiert: Der 16-jährige Marinus Schöberl wird nach stundenlangem Martyrium brutal ermordet von zwei Brüdern und ihrem Freund, alle zwischen 17 und 23 Jahre alt. Einer der Brüder, Marcel, zwingt Marinus am Ende, auf den Rand eines Futtertrogs zu beißen, wie in dem Film "American History X", und tötet ihn dann, indem er mit voller Wucht auf den Hinterkopf springt.

Als die Medienwelle schon wieder verebbt ist, da reist der Dokumentarfilmer und Drehbuchautor Andres Veiel nach Potzlow. Er beginnt zu recherchieren, sieben Monate lang, er studiert Prozessakten, führt Gespräche und erkundigt sich nach der Geschichte des Ortes. Daraus entsteht, zusammen mit der Dramaturgin Gesine Schmidt, 2005 ein Theaterstück – "Der Kick". Ein Jahr später kommt der Film heraus, schließlich ein Buch. Der Untertitel: "Ein Lehrstück über Gewalt". Was das Böse in uns weckt, darüber möchte ich jetzt mit Andres Veiel sprechen. Er sitzt im Studio in Stuttgart. Ich grüße Sie, Herr Veiel!

Andres Veiel: Ja, hallo!

Burg: Ja, man könnte die Geschichte von "Der Kick" auch so erzählen: Drei Jugendliche bringen einen vierten um, weil er stotterte und blondierte Haare hatte. Waren diese Jungen die geborenen Mörder oder was hat sie zu Tätern gemacht?

Veiel: Ja, erst mal ist ja die Monstrosität der Tat, die lädt dazu ein, dann Monster aus den Tätern zu machen, und wenn man dann genauer hinschaut, dann ist eigentlich das Erschreckende, dass sie eine ganz normale Biografie haben. Das heißt, dass die Eltern jetzt nicht besonders gewalttätig waren – all diese Phänomene, die man sonst aus Prozessen kennt, wenn solche Gewaltphänomene auftreten, das findet sich eben bei den Eltern nicht. Umso spannender dann die Frage: Was ist es denn dann eigentlich? Was treibt junge Menschen dazu, dann so nicht nur auszurasten, sondern über Stunden – es ist ja nicht nur ein Reflex – erst jemand zu quälen und dann auf so eine grausame Art und Weise umzubringen. Und für mich war immer wichtig, beides nebeneinander zu setzen, also zum einen eben nicht nur zu entschuldigen, zu sagen, es sind die Umstände, es ist die spezifische Situation, aber auf der anderen Seite, auch eben sie nicht in diesen Monsterkäfig rein zu sperren, das heißt dann doch zu verstehen, ohne zu viel Verständnis zu entwickeln, und das ist so eine ganz schmale Gradwanderung, und da habe ich versucht, eben zu graben und zu finden.

Burg: Auch bei dem Verlauf des Abends selber bekommt man ja den Eindruck, dass der Mord am Ende nicht wirklich zwangsläufig passieren musste. Welche Verkettung von Umständen hat dann doch dazu geführt, dass es doch dazu gekommen ist?

Veiel: Es ist eben ein Bündel von Ursachen, wo eben auch der Zufall eine Rolle spielt. Also wenn man sich es genauer anguckt, wenn man den Abend der Tat genauer anguckt, dann gab es eben nicht den Vorsatz. Also sie sind nicht morgens losgezogen und haben gesagt, ja, heute bringen wir mal jemanden um oder quälen jemand, sondern sind losgezogen mit anderen, haben getrunken erst, und da ist dann eben das Opfer, der Marinus, ihnen über den Weg gelaufen, und hat sie provoziert, auch deshalb, weil er sie in vielem an sich selbst erinnert hat, also in gewisser Hinsicht sie gespiegelt hat. Auch die Täter hatten große Schulprobleme, haben gestottert, waren Außenseiter im Dorf.

Das heißt, ein ganz wesentlicher Punkt ist die Kompensation, wenn man sich solche Täterbiografien anschaut, dann stößt man ja immer auf eine Ansammlung von Demütigungserfahrung, und dieser Moment, jemand anderen zu quälen, zu erniedrigen, sorgt ja für einen Rausch der Tat. Der Haupttäter hat später mal gesagt zu einem Kumpel – das ist erst mal grauenhaft, wenn man diesen Satz überhaupt benennt: Das ist geil, das musst du auch mal machen! Was heißt das? Das heißt, dass Gewalt in dem Moment aus sich selbst heraus einen eigenen Reiz entwickelt, den man eben nicht jetzt soziologisch, psychologisch alleine erklären kann, sondern es entsteht tatsächlich so eine Art Rauschwirkung, wo der Täter nicht mehr er selbst ist, sondern diesem Rausch auch ausgeliefert.

Burg: Abgesehen von diesem Tathergang, den Sie schildern, bohren Sie ja auch sehr tief in dem Dorf selber, denn das Opfer wurde ja erst vier Monate nach der Tat gefunden, obwohl es Zeugen und Mitwisser im Dorf gab. Da fragt man sich natürlich, warum haben die so lange geschwiegen?

Veiel: Das war auch eigentlich mein erster großer Schock: Woher kommt das? Das hat mich auch sehr beschäftigt. Warum gibt es Menschen, die im Umfeld dieser Tat manches mitbekommen haben und schweigen? Und ich habe dann festgestellt, das ist auch wieder Angst. Das ist nämlich die Angst, dass die Täter diese Zeugen auch mal zusammengeschlagen haben nach dem Motto, diesmal trifft es nicht uns, diesmal trifft es jemand anders. Und das war für mich eine ganz wichtige Erkenntnis, weil man kann das Böse, wenn man so will, benennen, man kann es auseinandernehmen im Sinne eines Ursachendickichts, dieses Dickicht lichten und Dinge benennen, Stück für Stück, eben die Gruppenzusammenhänge, die Dorfzusammenhänge, die Vorgeschichte – darüber haben wir jetzt noch gar nicht geredet.

Burg: Genau, auch eine Geschichte von Gewalt und Unrecht in Potzlow selber, die Sie auch ausgraben: Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg, Vergewaltigungen durch die Rote Armee, auch …

Veiel: Das Dorf, wie Sie sagen, ist eben eine Beschädigte. Und was heißt das? Das heißt, dass geschwiegen wird, dass über jede Schicht dieser Gewalterfahrung, wird eine Betonschicht gegossen. Es wurde eben nicht darüber geredet, dass einer der Gutsverwalter Zwangsarbeiter nicht nur misshandelt, sondern auch ermordet hat, der ist nämlich dann nach dem Krieg LPG-Vorsitzender geworden. Das heißt, es gab eine Kontinuität in den Machtzusammenhängen, und wenn man sich dann weiter anguckt, also die Vergewaltigungen – es sind sehr viele im Dorf vergewaltigt worden –, auch die Großmutter der Täter hat dieses Kind – sie ist dann schwanger geworden durch die Vergewaltigung – hat dieses Kind dann ausgesetzt, also wenn man so will, auch getötet. Auch darüber ist nicht geredet worden. Es geht für mich jetzt nicht um einen Begründungszusammenhang, weil bei der Großmutter das passiert ist, ist später der Mord an Marinus Schöberl, dann hat der stattgefunden, sondern es geht für mich um eine erweiterte Sichtweise, wie diese Gewalterfahrung abgespalten, tabuisiert wurde, und wie eine Schicht von Schweigen sich auf die nächste legt.

Burg: Es ist also gesellschaftlich und historisch eingebettet. Dennoch stellt sich natürlich die Frage, was die Tat selber angeht: Wo beginnt die eigene Verantwortung?

Veiel: Das ist ganz wichtig. Es gibt immer den Moment, wo jeder in einer bestimmten Situation nein sagen könnte. Es geht in der Tat dann – warum passiert es nicht –, es geht um eine Art von Kick, man hat plötzlich Macht, und da kommen dann mediale Vorbilder, die sich da einschalten, die eben dieses eine Umdrehung weiter eben vormachen – in dem Fall "American History X", ein Film, wo eben auch ein Bordsteinkick gezeigt wird –, und das rastet in einem Kopf eines Täters eben dann ein, und in diesem Falle hat dieser Film dazu geführt, dass diese letzte Eskalationsstufe erreicht wurde, eben dann tatsächlich dieser grausame Mord durch den Sprung auf den Kopf des Opfers.

Burg: In unserer Themenwoche über das Böse hier im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit dem Theaterautor und Filmemacher Andres Veiel, der unter anderem das Theaterstück und den Film "Der Kick" geschaffen hat. Herr Veiel, "Der Kick" erinnert auch in gewisser Weise an Abu Ghureib, wo Wärter Gefängnisinsassen gefoltert haben, oder an das berühmte Stanford-Prison-Experiment aus den 70er-Jahren. Bei dem hat ein Psychologe ein Gefängnis nachgestellt und freiwillige Studenten in Wärter und Gefangene eingeteilt, und dann musste nach wenigen Tagen das Experiment abgebrochen werden, weil die Wärter ihre vorgeblichen Gefangenen quälten. Was ist das Fazit, kann jeder von uns zum Täter werden, wenn nur die Rahmenbedingungen entsprechend sind und wenn das Umfeld oder eine Autorität das Quälen ausdrücklich gutheißt?

Veiel: Also Betonung auf "kann". Das Interessante ist ja, dass es immer – auch bei Stanford, auch bei sehr vielen Experimenten – immer eine ganz geringe zwar, aber eine Anzahl von Menschen gab, die sich dem, zumindest in Teilen, verweigert haben. Das heißt, es gibt keine Zwangsläufigkeit. In diesen Untersuchungen stellt man fest, wenn Autoritäten Gewalt anordnen, wenn in einer Gruppe drei, vier, fünf andere diese Gewalt legitimieren, verharmlosen, dann würde das ja bedeuten, man stellt sich außerhalb eines Gruppenkontextes, man isoliert sich, man wird möglicherweise gebrandmarkt als nicht konsequent, als Weichling, als Sissi, der das nicht aushält, und da kommen natürlich Männlichkeitsrituale, die spielen da eine ganz wichtige Rolle, Gruppenrituale.

Das ist ein ganz interessanter Prozess und ein sehr tragischer, dass auch in Anführungsstrichen "ganz normale Studenten" oder – im "Dritten Reich" gab es ja auch die Untersuchung bei einem Polizeibataillon, was dann an Juden-Erschießungen beteiligt war, auch von Frauen und Kindern – dass eben ganz normale Polizisten zu so etwas durchaus in der Lage sind, und da spielen eben genau diese Mechanismen der Gewissensberuhigung, der Abspaltung, des nicht den Dingen wirklich ins Auge Sehens, und eben vor allem, was die Männlichkeitsrituale angeht, man will nicht abseits stehen.

Burg: Wo wir jetzt gerade drüber sprechen: Philip Zimbardo, eben dieser Sozialpsychologe, der das Gefängnis-Experiment durchgeführt hat, der gibt als Definition fürs Böse: "Evil is knowing better that doing worse." Also das heißt, böse ist, wer wider besseren Wissens schlecht handelt. Wenn wir aber jetzt zum Beispiel den Abu-Ghureib-Folterskandal nehmen, da haben die Wärter gesagt, dass sie das, was sie getan haben, zu keiner Zeit als negativ oder böse bewertet haben. Kriegt man dann das Böse mit Zimbardos Definition wirklich in den Griff?

Veiel: Man muss da eben die Vorgeschichte sich genauer angucken. Das heißt, in dieser Vorgeschichte gibt es Definitionen. Da heißt es dann, das sind gefährliche Terroristen, die haben möglicherweise Menschen schon auf dem Gewissen, oder die wären jederzeit bereit, wieder ein Flugzeug in die Türme von New York zu steuern. Das sind ja die Aufladungen – das heißt, in dem Moment wird ja Gewissen schon paralysiert, nach dem Motto: Wenn ich den Leuten jetzt was antue, wenn ich die vorführe oder quäle und nackt ausziehe und zum Hund mache, was ist das im Verhältnis zu dem, was die potentiell uns antun können? Das heißt, es wird eine Art fiktive Vorabaufrechnung angestellt und damit eine subtile Degradierung. Es sind eben dann keine Menschen mehr, sondern es sind Mörder, es sind Monster, die man sowieso am liebsten entweder eigentlich töten müsste – aber wir sind ja zivilisiert, also töten wir sie nicht –, aber wir dürfen im Prinzip mit ihnen machen, was wir wollen.

Burg: Wenn wir jetzt noch mal auf den Potzlow-Fall zurückkommen: Sie haben ja auch mit der Umgebung gesprochen, und außer den Eltern wollte mit Ihnen kaum jemand über das Verbrechen sprechen. Man hat die Täter eben auch als Monster bezeichnet. Können die Menschen, die eben peripher damit beteiligt sind, den Gedanken gar nicht ertragen, dass in jedem Täter auch ein Opfer steckt?

Veiel: Also die Frage ist ja immer, was hat das mit einem selbst zu tun, also wozu bin ich selbst in der Lage. Und das ist etwas Bedrohliches, also werden Menschen zu Monstern gemacht, dann kann man sie von sich selbst wegtun, man kann sie in Gehege, in Käfige einsperren, das ist ein ganz häufiger Reflex von Abwertung, aber ich glaube, die Herausforderung ist, diesen "Monstern" in Anführungsstrichen jetzt eine Biografie zu geben und sie damit zurück zu holen in die Mitte. Und ich glaube, wenn man das eben verhindern will, dass es neue Opfer gibt, gibt es nur den Weg, dass wir die Täter in die Mitte der Gesellschaft zurückholen, nämlich da, wo sie herkommen.

Burg: Die Macht der Umstände, was das Böse in uns weckt, darüber habe ich mit Andres Veiel gesprochen in unserer Themenwoche über das Böse. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Veiel!

Veiel: Ja, sehr gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Das abgrundtief Böse. Themenwoche im Radiofeuilleton vom 2. bis 7. April 2012
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