"Man fühlt sich wie ein Detektiv"

Von Norbert Zeeb und Claas Christophersen · 01.07.2013
Im Sprengel-Museum Hannover wacht die Kuratorin Isabel Schulz über den Nachlass eines verlorenen Sohnes der Stadt an der Leine: des avantgardistischen Künstlers Kurt Schwitters, der seine Werke - und sich selbst "Merz" nannte.
"Sehr geehrte Damen und Herren, unser nächster Halt ist in wenigen Minuten Hannover Hauptbahnhof."

Isabel Schulz: "Es gibt so einzelne Werke, die mir dann so auch einfach persönlich gefallen, und es gibt auch immer wieder Texte, von denen ich einfach begeistert bin, wo ich auch immer wieder lachen muss, immer wieder. Dieser Hannover-Text ist einfach genial, finde ich."

"Liest man aber Hannover von hinten, so ergibt sich die Zusammenstellung dreier Worte: ´re von nah`. Ich schlage die Übersetzung ´rückwärts`vor. Dann ergibt sich also als Übersetzung des Wortes Hannover von hinten: ´Rückwärts von nah`. Und das stimmt insofern, als dann die Übersetzung des Wortes Hannover von vorn lauten würde: ´Vorwärts nach weit`."

Ein Raum im Personaltrakt des Sprengel-Museums, mitten in Kurt Schwitters‘ Heimatstadt. Hier verwaltet die Kunsthistorikerin und Kuratorin Isabel Schulz den Nachlass des avantgardistischen Künstlers. Dieser wurde dem Museum Anfang der neunziger Jahre von Schwitters‘ Sohn Ernst vermacht.

In grauen Karteikästen und Schränken an den Wänden lagern die Verzeichnisse von mehr als eintausend Bildern und Collagen; achthundert literarische Dokumente, die Schwitters hinterlassen hat; Persönliches wie Fotoalben und Adressbücher sowie die gesamte Korrespondenz. Ein genre-sprengendes Werk, das der Gesamtkünstler selbst schlicht "Merz" nannte …

Schulz: "Er selber sagt, es sei eine Silbe des Wortes "Commerz" aus einer Annonce der Commerz- und Privatbank. Er hat sich dann selber auch so genannt. Er war ja auch radikal in dieser Utopie, dass praktisch alles, sein Leben, sein Schaffen, alles, was er tat, war dann im Grunde Merz. ´Alles, was ein Künstler spuckt, ist Kunst.` Also: Er als Künstler war dann eben auch … er nannte sich selber auch Merz Schwitters und signierte mit Kurt Merz Schwitters und so weiter."

Isabel Schulz ist wohl die Person, die international am besten über Kurt Schwitters Bescheid weiß.

Wenn sie über den Mann spricht, dessen künstlerischen Nachlass sie verwaltet, sprudelt es geradezu aus Isabel Schulz heraus. Immer wieder lässt sie Schwitters-Zitate einfließen, als seien es ihre eigenen Worte. Dabei wirkt die 53-Jährige auf den ersten Blick zurückhaltend, beinahe skeptisch – besonders wenn sie etwas über sich erzählen soll, was sie nicht besonders spannend findet. Ihre Leidenschaft gehört der modernen und zeitgenössischen Kunst – und sie kommt schon früh damit in Berührung: während ihrer Kindheit in Düsseldorf.

"Na ja, ich bin halt wirklich mit einem Vater aufgewachsen, der sonntagmorgens seine Tochter an der Hand mit in den Düsseldorfer Kunstverein nahm und zur Eröffnung der Niki-de-Saint-Phalle-Ausstellung, in den sechziger Jahren. Also, ich war schon in so einer ´Nana-Maison` gewesen als kleines Mädchen, bevor die überhaupt erst bekannt wurde groß. Und das hat mich schon geprägt."

1996 kommt Isabel Schulz nach Hannover. Im dort beheimateten "Kurt-Schwitters-Archiv" wird eine Kunsthistorikerin gesucht, die an einem vollständigen Katalog der Schwitters-Werke mitarbeiten soll. Zuerst ist es für Schulz vor allem eine Arbeitsstelle, dann, je länger sie in Hannover bleibt, geradezu eine Lebensaufgabe – mit immer mehr Tätigkeiten. So ist sie auch ehrenamtliche Geschäftsführerin der "Kurt-und-Ernst-Schwitters-Stiftung", die die Witwe von Schwitters‘ Sohn Ernst 2001 am Sprengel-Museum gründet.

Es dreht sich also alles um Schwitters bei Isabel Schulz.

"Das waren auch bestimmt immer die guten Momente einer langwierigen, jahrelangen Arbeit an diesem Werkverzeichnis, wo auch viel Fleißarbeit natürlich dazugehört, sind es sicherlich die spannendsten Momente gewesen, weltweit in anderen Archiven zu sein, im Getty Centre oder im MoMa-Archive oder in Tate oder wo auch immer, also in anderen Archiven zu recherchieren: was finde ich von Schwitters?

Und diese Überraschung auch, was finde ich noch wieder? Das ist dann hinterher auch wie ein Puzzle, und man fühlt sich wie ein Detektiv: so die Spuren der Werke zu verfolgen, auf seinen Spuren zu reisen, zum Beispiel durch Europa zu reisen, das gehört ja dazu. Das ist alles sehr, sehr spannend und gibt einem ja auch sehr viel mehr als jetzt immer nur diese Person Schwitters."

Eine schillernde Person, dieser Schwitters – in seinem Anspruch radikal, Kunst zum eigenen Lebensprinzip zu erklären. So bewahrte er in seinem "Merzbau" in Hannover ein Reagenzglas mit seinem Urin auf, weil auch das für ihn Kunst sein konnte. Dagegen gibt sich Schwitters‘ Nachlassverwalterin bewusst nüchtern. Isabel Schulz sieht sich in erster Linie als Kunstwissenschaftlerin, die viel Wert auf Distanz zu dem Menschen legt, mit dem sie sich seit siebzehn Jahren unentwegt beschäftigt.

"Ganz bewusst versuche ich es, irgendwelche identifikatorischen Dinge zu vermeiden oder irgendwelche Mythenbildungen voranzutreiben. Im Gegenteil: ich versuche ja gerade, kritisch die Quellen darauf hin zu befragen, was ist wirklich Fakt, und was ist eigene oder fremde Mythenbildung von Schwitters, der natürlich unglaublich geschickt war in seiner Selbstdarstellung und Vermarktung."