Malakhov wünscht sich eigene Basis für Berliner Staatsballett

Vladimir Malkhov im Gespräch mit Frank Meyer · 03.12.2010
Der Balletttänzer und Intendant des Berliner Staatsballetts, Vladimir Malakhov, wünscht sich seitens der Politik mehr Aufmerksamkeit für die Belange seines Ensembles. Er fände es wünschenswert, für das Berliner Staatsballett eine eigene Basis zu bekommen, sagte Malakhov.
Frank Meyer: Herr Malakhov, Sie haben einmal gesagt, dass der Tanz vom Herzen kommen muss. Aber wenn man in Artikeln oder Interviews von Ihnen liest, wie Sie als Zehnjähriger schon geschunden worden sind, Ihr Lehrer im Bolschoi-Ballett in Moskau, also Ihr Lehrer im Internat des Bolschoi-Balletts in Moskau, Petr Pestov, er soll Sie geschlagen haben, soll Ihnen Sandsäcke an die Füße gehangen haben, damit Sie höher springen, es gab eine strenge Buchweizengrützediät – auch davon kann man lesen. Wenn man das liest, da denkt man, was für Qualen müssen das gewesen sein damals. Wie erinnern Sie heute diese Zeit, wie wurde aus dieser - nennen wir es ruhig so - Quälerei in Tanz, der vom Herzen kommt.

Vladimir Malakhov: Natürlich ist das alles wahr, und es war auch eine teilweise sehr schwere Zeit – es war viel Gutes, aber auch Schlechtes. Es ist eben sehr schwer, wenn man im Alter von zehn Jahren von den Eltern weg kommt, wenn man nach Moskau gehen muss, in die Hauptstadt, um dort zu lernen, man muss alles alleine machen, ohne die Unterstützung der Mama, und natürlich war das schwer.

Aber als ich dann den Geschmack des Berufes so langsam verspürt habe, da fing es an, mir zu gefallen, und ich habe eben gemerkt, dass man aus mir einen Artisten machen wollte, und ich wollte auch ein Artist werden. Aber wenn der Pädagoge sich über mich lustig gemacht hat und wenn ich zum Beispiel spazieren gehen wollte mit anderen Kindern, dann habe ich eben wieder daran gedacht, an meinen Beruf, und dann gefiel es mir doch wieder.

Meyer: Wie ist das zu erklären, dass ein Zehnjähriger sich schon absolut sicher ist, ich will tanzen?

Malakhov: Ich bin ja schon in meiner Heimatstadt in der Ukraine zum Tanzen gegangen, dort, wo ich geboren bin. Und ich habe getanzt in einem Ballettzirkel, das war natürlich nicht professionell zu der Zeit, aber es waren eben auch schon Charaktertänze. Der Pädagoge hat gesagt, der Junge ist fähig, der ist talentiert, und so kam es, dass ich dann eben an eine professionelle Schule gekommen bin. Und dahinter steckt natürlich auch der sich nicht erfüllte Wunsch meiner Mutter, die gerne Ballerina geworden wäre, aber das nicht werden konnte. Und so war das erste Kind von ihr, nämlich ich – bin es dann geworden.

Meyer: "Du wirst ganz und gar bewegt", heißt es auf der Internetseite des Staatsballetts Berlin. Was ist das Eigene des Tanzes, eben das, was andere Künstler nicht haben – vom Ausdruck her, von der Poesie, die daraus spricht, von der Art und Weise, wie Menschen angesprochen werden, das ist ja eine ganz eigene Sprache. Was bewirkt diese Sprache, was kann diese Sprache ausdrücken, was sich in keiner anderen Sprache sagen lässt?

Malakhov: Wir reden ja nicht, sondern wir reden mit unserem Körper. Entweder hast du das Gefühl, um es mal von hinten anzufangen, oder du hast es eben nicht. Du musst das Gefühl vom Herzen heraus bewegen. Und es ist manchmal so, dass ich das eine Stück so aufführe und am nächsten Tag mache ich es wieder anders. Manchmal werde ich gefragt: Das letzte Mal hast du dieses Stück aber so und so getanzt, warum hast du es diesmal nicht wieder so gemacht? Dann antworte ich: Ich bin kein Computer, ich bin gestern mit Sonne aufgestanden, heute mit Regen, und dementsprechend muss man da eben kreativ sein bei so etwas.

Meyer: Ich kann mir vorstellen, Herr Malakhov, wenn Sie aus dem Herzen heraus tanzen und Ihre Sprache die Bewegungen sind, wenn Sie dann das Gefühl haben, dass das beim Zuschauer ankommt, dass der Saal Ihnen sozusagen entgegenfiebert, dass eine Vibration, eine Spannung ist, dass das sehr große Momente sein müssen.

Malakhov: Für mich ist das wie eine Droge, wie ein Narkotikum. Wenn man auf die Bühne herausgeht, das Licht, das Orchester, das Publikum ist dort, dann ist das schon 50 Prozent des Stresses. Ich bade darin – und dann hinterher, dann ist es noch eine ganze Weile so, dass ich fliege in höheren Sphären. Und erst, wenn das Adrenalin, der Spiegel sinkt, dann bin ich auch sofort ganz müde.

Meyer: Sie haben die Bedingungen geschildert, unter denen Sie gelernt haben. Von jungen Balletttänzern, die ganz nach oben wollen, wird äußerste Disziplin, ich glaube unendlicher Fleiß und auch ein hohes Maß an Gehorsam verlangt. Der Nachwuchs, den Sie fürs Staatsballett Berlin engagiert haben, kommt zum großen Teil aus Russland, wenige Deutsche sind dabei – kann man das auch dadurch erklären, dass es jungen deutschen Tänzern, vielleicht auch den Ausbildungsstätten an eben diesen Tugenden, die ich genannt habe, fehlt?

Malakhov: Wenn ich meinen Mund öffne, müsste man dieses Interview niemandem zeigen. Viele sagen, dass Malakhov nur Russen nehmen würde. Nein, das ist nicht richtig – Malakhov nimmt diejenigen, die Talent haben, die was können. Wenn in meine Truppe ein Junge oder ein Mädchen kommen würde, sagen wir mal aus Brasilien oder vielleicht sogar aus der Antarktis, also ein Pinguin zum Beispiel, der das auch alles könnte, und das alles kann und macht, was ich sage, dann nehme ich ihn.

Man sieht es den Künstlern schon an, aus welchen Schulen sie kommen. Es ist zum Beispiel die französische Schule, die russische Schule, die japanische Schule, auch die chinesische Schule ist jetzt sehr stark im Kommen, Amerika auch. In Deutschland ist eine Ausbildungsstätte sehr gut, das ist die in Stuttgart. Hier in unserer Stadt, was hier abläuft, ist es so, dass viele eben aus der Modernen kommen, und dann muss ich sagen: Wer Klassik kann, der kann auch die Moderne, aber wer hier wie hier in Berlin modern gelernt hat, das ist schwer für ihn, dann die Klassik zu machen, weil er dann zum Beispiel eine bestimmte fünfte Position nicht halten kann. So ist es zum Beispiel hier letztes Jahr so gewesen, dass von den Absolventen des letzten Jahrganges nicht einer Zugang gefunden hat zu irgendeiner der Balletttruppen.

Meyer: Vor sechs Jahren wurde das Staatsballett Berlin in dieser Form gegründet, Sie treten in drei Berliner Opernhäusern auf – in der Staatsoper, in der Deutschen Oper, in der Komischen Oper –, was sagen Sie nach sechs Jahren, hat sich dieses Modell eines eigenständigen Balletts bewährt?

Malakhov: Auf der einen Seite ist es natürlich gut, dass wir so eine eigene Gruppe sind, wir haben also keine Konkurrenten. Andererseits sind wir ein bisschen wie die Sinti und Roma, man wirft uns eben auf drei verschiedene Bühnen, und wir haben leider keine eigene Basis – das wäre etwas, was ich mir wünschen würde. Wir sind jetzt reingekommen in die Renovierung der Staatsoper, unsere Studios in der Deutschen Oper waren aber noch nicht fertig. Ich fände es wünschenswert, wenn seitens der Parteien, die uns regieren hier, doch etwas mehr Aufmerksamkeit dem Ganzen entgegengebracht werden würde und man uns eben eine eigene Basis geben könnte.

Meyer: Erstaunlich, wenn ich mir vorstelle, dass Sie ein Weltstar in Berlin sind und die Stadt Ihnen offenkundig so begegnet, wie Sie es schildern.

Malakhov: Ich kann ja nicht zu Frau Merkel laufen und sie anflehen: Frau Merkel, bitte geben Sie uns Geld. Ich könnte natürlich ein Drama inszenieren, was vom Herzen ausgeht, aber wozu?

Meyer: Herr Malakhov, Sie haben schon auf der ganzen Welt gearbeitet, Sie können in der ganzen Welt arbeiten, warum bleiben Sie Berlin so treu?

Malakhov: Das ist jetzt eben so: Wir sind eine Truppe geworden, mit jedem Jahr sind mehr Tänzer hinzugekommen, und wir sind wie eine große Familie, und die will ich – zumindest jetzt – nicht verlassen. Es geht mir gut hier, ich kann kreativ sein, arbeiten, und deswegen ist das so.

Meyer: Die große Familie, die immer herumzieht wie die Zigeuner. Der Schwerpunkt Ihres Spielplans liegt im klassischen Repertoire, die dann durch Werke der klassischen Moderne vor allem ergänzt wird. Manche Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie sich zu wenig für Experimente öffnen, dass Sie zu sehr dem klassischen Ballett verbunden sind – sind Sie das?

Malakhov: Ich denke, ich muss ja auch Geld verdienen. Ich bin natürlich offen für Experimente, und ich mache auch Experimente, auch wenn die Kritiker mir das anders vorwerfen. Jeder Künstler muss sich ja auch entwickeln, jeder Tänzer muss sich entwickeln, in moralischer Hinsicht, in physischer Hinsicht, und ich suche im Augenblick auch Choreografen, die bereit wären, moderne Stücke aufzuführen, zu machen, aber ich muss auch dazusagen, in einer Saison geht das durch und alle gehen mit großem Hurra da hin, in der zweiten Saison fällt dann vielleicht das Interesse schon und im dritten ist es ganz weg. Also ich würde auch riskieren, mal Geld zu verlieren, aber ich muss sagen, das klassische Ballett zum Beispiel – sei es "Der Nussknacker" oder "Der Schwanensee" –, das wird immer die Häuser füllen.

Meyer: Herr Malakhov, kommen wir noch zu einem letzten Thema: Es ist ja immer so die Faustregel, dass ein Tänzer, wenn er mit ungefähr 18 Jahren seine Ausbildung beendet hat, ungefähr 20 Jahre, bis Mitte, Ende 30 auf der Bühne stehen kann. Sie sind 42, treten im Moment in der Inszenierung von "Carravaggio" auf, einem Tanzstück von Mauro Bigonzetti. Man hat viel gelesen über die Kämpfe, die Sie mit Ihrem Körper führen, von Schmerzen, von Operationen war die Rede – warum machen Sie das? Es muss ein großes Glück sein, immer noch auf der Bühne zu stehen. Oder gibt es schon Momente, wo Sie denken, nein, es wird langsam zu hart für mich?

Malakhov: Um es von hinten aufzuziehen: Es ist noch nicht die Zeit gekommen für mich, um von der Bühne abzutreten. Ich weiß natürlich, dass die Zeit dahingeht und dass der Moment irgendwann kommen wird, wo ich die Bühne verlassen muss. Aber ich möchte es mal so sagen: Ich will tanzen. Mir ist natürlich klar, dass ich nicht bis 60 auf der Bühne stehen kann.

Viele von meinen Kollegen, mit denen ich zusammen gelernt habe, sind jetzt schon seit circa acht Jahren nicht mehr dabei, aber ich möchte schon noch ein bisschen weitermachen. So wie Sie es ganz zu Anfang gesagt haben: Heutzutage muss ich schon nicht mehr mit der Technik die Leute in Erstaunen versetzen, das habe ich vor circa 20 Jahren gemacht, heute geht es mit der Seele und dem Herzen.

Meyer: Denken Sie manchmal darüber nach, ins zeitgenössische Fach zu wechseln, also wie das meinetwegen bei Reznikov – mit 62 glaube ich jetzt – in Paris macht, also in ein Fach, das Ihnen extreme Bewegungen erspart, aber dafür größere Ausdrucksmöglichkeiten verschafft, also Gelegenheit, wenn ich so sagen darf, ein Charisma des älter gewordenen Vladimir Malakhov?

Malakhov: Ja, selbstverständlich, ich will natürlich nicht den gealterten Malakhov machen, sondern genau denselben wie früher. Natürlich mache ich auch so eine Transission, bloß der Übergang soll eben nicht so abrupt, so hart gehen, sondern geschmeidig. Man müsste einen Choreografen finden, der eben dich so zeigen kann, wie du jetzt eben bist.

Meyer: Letzte Frage: Sie haben so viel erreicht, Herr Malakhov, welchen beruflichen Traum möchten Sie sich noch gerne erfüllen? Sind da überhaupt noch welche übrig geblieben?

Malakhov: Natürlich sind noch sehr viele Träume übrig, natürlich sind noch sehr viele Dinge, die ich gerne machen möchte, aber die werde ich Ihnen nicht sagen, denn es gibt ein russisches Sprichwort: Wenn man darüber spricht und sie ausspricht, werden sie sich nicht erfüllen.

Meyer: Herr Malakhov, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!
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