Märchen von der Kanzel

Von Simon Schomäcker · 17.11.2012
Eine Kindheit ohne Grimms Märchen - das ist auch 200 Jahre nach Veröffentlichung der zuvor nur mündlich überlieferten Geschichten kaum denkbar. Im Jubiläumsjahr tauchen sie auch an ungewöhnlichen Orten auf - zum Beispiel in der evangelischen Kirche in Herne.
Pfarrer Wolfgang Henke liest aus "Der gestiefelte Kater": "Es war einmal ein Müller, der hatte drei Söhne, seine Mühle, einen Esel und einen Kater ..."

Ungewohnte und doch irgendwie vertraute Texte hallen durch die evangelische Kreuzkirche. Der komplette Raum ist in geheimnisvoll farbiges Licht getaucht.

Alle 400 Plätze des neugotischen Gotteshauses in der Innenstadt von Herne sind an diesem Abend besetzt. Andächtig lauschen die Besucher den Worten von Pfarrer Wolfgang Henke, begleitet von dynamisch-improvisatorischem Orgelspiel.

Henke steht nicht, wie sonst üblich, auf der mächtigen Kanzel. Stattdessen sitzt der Geistliche in einem antiken Sessel im Altarraum. Daneben stehen eine große Stehlampe mit Stoffschirm und ein Beistelltischchen.

Wolfgang Henke liest heute nicht aus der Bibel. Denn die Kreuzkirchengemeinde veranstaltet, passend zum 200. Jubiläum der Grimmschen Märchensammlung, zum zweiten Mal ihre Märchen- und Orgelnacht.

"Die Idee entstand vor jetzt drei Jahren. Und damals war es so, dass es anstand, unsere Orgel zu renovieren. Und wir haben überlegt, wie kann man Menschen, die jetzt nicht unmittelbar einen Draht zur Orgel und zur Kirche haben, einen schönen Abend machen und dieses Instrument in den Mittelpunkt stellen und einfach etwas Besonderes in der Kirche machen, was wir bis jetzt auch noch nirgendwo gesehen hatten ..."

... erzählt Gemeinde-Organist Wolfgang Flunkert über die anfänglichen Planungen für die erste Märchen- und Orgelnacht im Jahr 2009. Der Erlös dieser Veranstaltung kam der Orgelrenovierung zugute. Doch was haben ausgerechnet Märchen mit Kirche gemeinsam? Mit dieser Frage beschäftigte sich Pfarrerin Katharina Henke:

"Dann habe ich mich auf die Suche gemacht nach Gottesbildern, also wie kommt Gott in den Märchen vor? Da habe ich gemerkt, wie viele Bilder, Geschichten und Symbole in den biblischen Geschichten ich kenne. Zum Beispiel Geschwister tauchen auf: Hänsel und Gretel sind Geschwister, die sich wirklich lieben und einander helfen. Schneeweißchen und Rosenrot lieben sich herzlich. Solche Geschwisterliebe gibt es natürlich auch in biblischen Geschichten - Josef und seine Brüder."

Helga Höffken liest aus "Schneeweißchen und Rosenrot": "Vor dem Hüttchen war ein Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen. Davon trug das eine weiße und das andere rote Rosen. Und sie hatten zwei Kinder, die glichen den beiden Rosenbäumchen. Das eine hieß Schneeweißchen und das andere Rosenrot."

Die Publikumsresonanz der ersten Märchen- und Orgelnacht war so gut, dass sich die Kreuzkirchengemeinde zu einer zweiten Auflage entschloss. Insgesamt sechs Lektoren sind heute Abend in die Kreuzkirche gekommen, darunter Schauspieler und Journalisten.

Till Beckmann liest aus "Der Meisterdieb": "Armer Mann, Du dauerst mich. Ich will Dein Kind aus der Taufe heben, für es sorgen und es glücklich machen auf Erden."

Zusammen mit sechs verschiedenen Organisten bringen die Lektoren bekannte und weniger bekannte Märchen zu Gehör. Gerade für die Organisten bedeutet das eine besondere Herausforderung. Wolfgang Flunkert:

"Normalerweise hat man als Organist Noten vor sich. Und diesmal ist es ja so, dass man keine Noten hat, sondern man hat den Märchentext vor sich liegen. Und da muss man sich natürlich etwas einfallen lassen, was zur Stimmung der Märchen jeweils passt."

Die meisten Lektoren des heutigen Abends bevorzugen die klassische Rezitation im Sitzen oder Stehen. Der Bochumer Schauspieler und Theaterpädagoge Ralf Lambrecht hat jedoch eine besondere Darbietung mitgebracht. Dabei bewegt er sich durch den gesamten Altarraum.

Ralf Lambrecht liest aus "Hänsel und Gretel": "Kinderlein, was macht ihr denn hier im Wald? Ich bin der Wachtmeister Dimpflmoser. Und Hänsel und Gretel fingen an zu erzählen, wie sie sich verirrt hatten und Wachtmeister Dimpflmoser machte sich Notizen."

Zu dieser freien Nacherzählung kam Ralf Lambrecht durch einen historischen Kontext:

"Man soll sich da nichts vormachen: Die Märchen sind wirklich früher Volksgut gewesen und von den Leuten erzählt worden, sehr unterschiedlich mündlich tradiert. Und von daher wollte ich auch nicht die Standardform bringen, sondern eine offene Form. So wie es früher wahrscheinlich auch war."

Die gesamte Märchen- und Orgelnacht wurde von der Gemeinde komplett in Eigenregie geplant und schließlich auch durchgeführt. Pfarrerin Katharina Henke ist stolz auf das Wirken ihrer Arbeitsgruppe und damit auch auf den Zusammenhalt der Gemeinde:

"Dass sich Teams bilden, die hier den ganzen Abend über im Wechsel bewirtet haben. Oder dass Leute Ideen haben: 'Ach, zum Vorlesen da brauchen wir einen richtig schönen alten Sessel. Und da wäre doch eine Stehlampe noch gut, wie früher Großvater oder Großmutter.' - Das macht einfach Freude und das stiftet an. Und es kommen Leute in die Kirche, die sind vielleicht inzwischen ausgetreten. Aber sie hören neu zu und sie begegnen sich. Und das hat man bei den Zuhörern ja gesehen, wie das Freude weckt."

Dementsprechend haben die meisten Zuhörer bis zum Ende durchgehalten. Kurz nach Mitternacht machen sie sich, nach fünfeinhalb Stunden, erfreut auf den Heimweg:

"Es passt halt alles super zusammen: Das Orgelspiel, wie das dann einfließt in das Märchen. Und dazu das Licht - also das finde ich sehr eindrucksvoll. Alle Sinne sind angesprochen."

"Zum Beispiel zu dem 'Gevatter Tod'. Da jetzt schöne Moll-Melodien zusammenzustellen und zu untermalen. Das ist schon eine ganz besondere Stimmung."

"Da hatte man das Gefühl, dass die Orgel wirklich die Handlung des Märchens aufnimmt und die ganzen kleinen Facetten spielt, die das Märchen auch hergibt."


Mehr zum Thema:

Und wenn sie nicht gestorben sind ...
Grimms Märchen und der liebe Gott (DKutur)
Mehr zum Thema