Mächtiger Politiker und Vorbild der Massen

Von Tilo Wagner · 10.11.2013
Jurist, Zeichner, Übersetzer, Schriftsteller, Parteifunktionär und vor allem Widerstandskämpfer gegen die Salazar-Diktatur, die in Portugal fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte: All das war Álvaro Cunhal.
Als Álvaro Cunhal im Juni 2005 zu Grabe getragen wurde, säumte eine riesige Menschenmenge die Straßen der portugiesischen Hauptstadt. Die Lissabonner trugen Nelken in den Händen und sangen alte Revolutionslieder.

Für José Pacheco Pereira, der an einer fünfbändigen Biographie über den Kommunistenführer Portugals arbeitet, war das Begräbnis ein Zeichen, dass Álvaro Cunhal für viele Portugiesen mehr war als bloß ein machtbesessener Politiker.

"Cunhal war wie ein weltlicher Heiliger, also jemand, den diejenigen huldigen, die eigentlich nicht religiös sind. Dieses Phänomen hat gar nicht so viel mit dem Einfluss der Kommunistischen Partei zu tun, sondern mit einer allgemeinen Suche nach Vorbildern in einer Zeit, in der die Ideologien und die Politik in der Krise stecken."

Jurist, Zeichner, Übersetzer, Schriftsteller, Parteifunktionär und vor allem Widerstandskämpfer gegen die Salazar-Diktatur, die in Portugal fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte: All das war Álvaro Cunhal. Geboren am 10. November 1913 in der Universitätsstadt Coimbra, wuchs Cunhal in einer gutbürgerlichen republikanischen Familie auf. 1940 schloss er an der Universität Lissabon sein Jurastudium ab mit einer für die Zeit außergewöhnlich provokativen Arbeit über das Recht der Frau auf eine straffreie Abtreibung.

Zu diesem Zeitpunkt war Álvaro Cunhal bereits Mitglied des Zentralkomitees der Portugiesischen Kommunistischen Partei, hatte im Spanischen Bürgerkrieg gegen Francos Faschisten gekämpft und in Moskau Stalin aus nächster Nähe bewundert. Seine Partei war schon 1926 verboten worden und die Geheimpolizei des Salazar-Regimes hatte Cunhal zwischenzeitlich zweimal festgenommen, bevor er ab 1949 eine lebenslange Haftstrafe antreten sollte.

Nach zwölf Jahren, davon acht in Isolationshaft, gelang Cunhal und seinen Weggefährten im Januar 1960 eine spektakuläre Flucht aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Peniche. Im Untergrund wurde Cunhal kurz darauf zum Generalsekretär der PKP gewählt. Er verließ Portugal, floh nach Moskau, und später nach Paris, von wo aus er im April 1974 den linksgerichteten Militärputsch beobachtete, der das autoritäre Regime in Portugal stürzte. Cunhal kam wenige Tage später am Flughafen in Lissabon an und wurde von einer hoffnungsfrohen Menschenmasse begrüßt.

Als Parteiführer der zu diesem Zeitpunkt stärksten politischen Kraft in Portugal versprach Cunhal Freiheit, Demokratie und Frieden. Kritiker warfen ihm später vor, er hätte ein sozialistisches Regime nach sowjetischem Vorbild aufbauen wollen und Portugal so an den Rande eines Bürgerkrieges geführt.

Schließlich siegte die parlamentarische Demokratie. Die Kommunisten folgen bis heute Cunhals Strategie, sich in keine Regierungskoalition mit den gemäßigten Sozialisten einbinden zu lassen. Mit Erfolg: Die Partei übt noch heute großen Einfluss auf die portugiesischen Gewerkschaften aus und regiert in einigen Städten im Süden des Landes.

Im Gefängnis in den 1940er und 1950er Jahren hatte Cunhal seine künstlerische Neigung entdeckt: Er übersetzte Shakespeares "King Lear" ins Portugiesische, fertigte Bleistift- und Kohlezeichnungen an und schrieb Romane. In dem stark autobiographisch gefärbten "Até amanhã, camaradas" erzählt er das Schicksal einer Gruppe von Kommunisten, die im ländlichen Portugal Streiks gegen das Regime organisiert:

"Die Partei ist kein Selbstzweck. Wenn die Organisationen bestehen, aber die lebenswichtigen Probleme der Arbeiter nicht kennen, wenn sie von den Massen entfernt sind, wenn sie nicht aufklären, die Formen für die Organisation und die Führung des Kampfes zu finden - wozu dienen sie dann eigentlich?"

Cunhals Romanfiguren passten nicht recht zu dem nach außen hin Moskau treuen Parteiführer, der die Reformbewegung des Eurokommunismus strikt ablehnte. Das literarische Werk erschien deshalb unter dem Pseudonym Manuel Tiago, und erst nachdem Cunhal 1992 den Parteivorsitz niederlegte, enthüllte er seine Schriftstelleridentität.

Der Untergang der kommunistischen Regime in Osteuropa setzte dem Mann mit den schneeweißen wallenden Haaren und dem kantigen Kinn schwer zu. Álvaro Cunhal zog sich von allen öffentlichen Ämtern zurück. Über die beiden Säulen seines Lebens - Politik und Kunst - sagte er einmal:

"Politik kann Poesie und Träume, und sogar Fantasie beinhalten. Gleichzeitig hat die Kunst einen so hohen Wert für den Menschen und für die Gesellschaft, dass die Politik gar nicht anders kann, als die Kunst zu fördern, damit sie ihren Wert für die Gesellschaft entfalten kann. Der Künstler muss deshalb unbedingt unterstützt werden, damit er die für die Entwicklung der Gesellschaft notwendigen Werke schaffen kann."