Madeleine Thien: "Sag nicht, wir hätten gar nichts"

Die wahren Helden Chinas

Cover von Madeleine Thiens Roman "Sag nicht, wir hätten gar nichts" vor dem Hintergrund einer Demonstration auf dem Pekinger Platz des himmlischen Friedens im Juni 1989 vor der Niederschlagung der Proteste
Demonstranten setzen auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking am 03.06.1989 einen Panzer in Brand. Die Staatsführung ließ die Proteste für mehr Demokratie und Freiheit blutig niederschlagen. © dpa / Luchterhand
24.10.2017
Der Roman "Sag nicht, wir hätten gar nichts" von Madeleine Thiens, kanadische Schriftstellerin mit chinesisch-malaysischen Wurzeln, spielt im China des 20. Jahrhunderts. Er zeigt, wer die wirklichen Helden Chinas waren: die unbeugsamen, die zerbrochenen Menschen einer grausamen Politik.
Madeleine Thien, 1974 in Vancouver geboren, ist eine kanadische Schriftstellerin chinesisch-malaysischer Herkunft, die in Romanen und Kurzgeschichten geschrieben hat über Asien und immer wieder über Flucht, Verlust, Erinnerung und die Zerbrechlichkeit von Gewissheiten. Sie sucht nach Wahrhaftigkeit und findet in ihr die Kraft, mit der Menschen überleben, nicht aufhören zu lieben - oder gar zu hoffen.
Thien wuchs als jüngstes von drei Kindern und als einziges ohne eigene Erinnerungen an Asien auf. Und doch habe sie diese geerbt, sagt sie, seien sie eingeschrieben in ihre Zellen. Und so spielt auch ihr neuster Roman "Sag nicht, wir hätten gar nichts", mit dem sie es 2016 auf die Shortlist des prestigereichen Booker Preises schaffte, im China des 20. Jahrhunderts –vom Japanisch-Chinesischen Krieg über die Kulturrevolution unter Mao bis hin zum Massaker am Platz des Himmlischen Friedens 1989.
Man braucht Zeit, um in dieses Buch einzusteigen und zu bleiben in ihm – und mag am Ende nicht aus ihm heraus. Erzählt wird, wie der politisch erzwungene Umbau der Gesellschaft zerstörerisch eingreift in das Leben von Lehrern und Studenten des Konservatoriums für klassische Musik in Shanghai. Begabte, begnadete und leidenschaftliche Pianisten, Komponisten, Violinisten träumen von Musik, von einer Zukunft. Und auf einmal ist westliche Musik dekadent. Am Konservatorium zu lehren oder zu studieren, ist ein konterrevolutionäres Verbrechen. Die Instrumente werden zertrümmert, die Musiker werden gedemütigt, verschleppt, verbannt oder ermordet. Es ist eine Zeit, in der die, die überleben, bis in den letzten Winkel ihres Menschseins verfolgt, verbogen, in ihrer Essenz verwundet werden.

Mit dramaturgischer Raffinesse inszeniert

"Sag nichts, wir hätten gar nichts" ist ein Buch über Musik, über politischen Wahn und das Staubkorn Mensch, leidend und verweht im großen Geschehen. Wir begegnen Figuren wie "Große Mutter Messer", "Die alte Katze", lernen "Wirbelwind" kennen und "Wen, den Träumer". Und Sperling, den großen Komponisten mit dem bescheidenen Namen. Auch er wird in eine weit entlegene Provinz deportiert, wo er verstummt. Sperling wird in der Verbannung zu einem Vogel der Stille. Madeleine Thien zeigt in kluger Feinfühligkeit die seelenzersetzenden Entscheidungen, die Menschen in Zeiten der kollektiven Brutalität treffen müssen. Und so lesen wir auch von jenen, die sich unterwerfen, die Verrat üben an sich und andere denunzieren.
Es geht aber auch in diesem mit dramaturgischer Raffinesse inszenierten Roman um "Das Buch der Aufzeichnungen". Ein Buch, das immer wieder abgeschrieben wird, im Land kursiert, von dem mal hier, mal dort ein Kapitel auftaucht, in dem auch mit kodierten Botschaften nach Verschollenen gesucht wird. Es könnte ein Buch der Wirklichkeit sein oder ein Roman. Und vielleicht ist das, was wir gerade lesen eine weitere Abschrift, eine Fortsetzung. Du musst die Zukunft von mir grüßen, sagt "Alte Katze" an einer Stelle. Und genau das hat Madeleine Thien getan; hat der Zukunft von der Vergangenheit erzählt und den Chinesen gezeigt, wer ihre wirklichen Helden waren: die unbeugsamen, die liebenden, die zerbrochenen Menschen einer grausamen Politik.

Madeleine Thien: "Sag nicht, wir hätten gar nichts"
aus dem kanadischen Englisch von Anette Grube
Luchterhand, München 2017
656 Seiten, 24 Euro

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