Lyrikerin Tal Nitzán

"Gedichte müssen mich zwingen, geschrieben zu werden"

Die Autorin Tal Nitzán.
Die israelische Autorin Tal Nitzán. © Iris Nesher
Von Carsten Hueck · 27.09.2017
Israelische Gegenwartslyrik ist in Deutschland so gut wie unbekannt. Dabei hat Israel eine lebendige und vielfarbige Lyrik-Szene, in der viele starke Stimmen es verdienen, gehört zu werden. Eine von ihnen gehört Tal Nitzán.
Es ist Spätsommer und schon kühl geworden. Tal Nitzán hat sich schnell noch ihre rote Lederjacke geholt. Sie öffnet das Tor zum Garten, der direkt an den Wannsee grenzt. Doch das Schloss hat seine Tücken.
"The push-through-key."
Die schlanke, rothaarige Autorin muss lachen. Tal Nitzán wirft ihre Locken zurück und versucht vergeblich den Schlüssel durch das Schloss zurück zu schieben. Nach mehreren Anläufen gelingt es.

"Mit so viel Schönheit kann ich nichts anfangen"

Am Seeufer angelangt, zeigt Tal Nitzán über das Wasser:
"Der Sonnenuntergang dauert hier stundenlang und ich kann meine Augen nicht abwenden. Es macht mich sprachlos. Aber es inspiriert mich nicht. Es ist zu perfekt. Meine Gedichte sind eher dunkel und mit so viel Schönheit kann ich nichts anfangen. Ich kann sie nur hilflos anstarren."
Tal Nitzáns Lyrik ist rau und intim, radikal subjektiv und engagiert. Sie schreibt über Verletzungen, die Menschen sich zufügen, sie schreibt über Ungerechtigkeit und Tod, über Liebe und Kampf. Geboren in Jaffa, wuchs sie als Tochter aus Argentinien stammender israelischer Diplomaten in Buenos Aires und Bogotá auf. Sie übersetzte viel Prosa, aber auch Pablo Neruda, Octavio Paz, Jorge Luis Borges und Antonio Machado.
Die intensive Beschäftigung mit den großen Meistern brachte jedoch ihre eigene lyrische Stimme vorübergehend zum Erliegen. Doch sie fand sie wieder – auf, wie sie zugibt, recht seltsame Weise, denn sie ist keineswegs der esoterische Typ.
"Das passierte nach einem Tanzworkshop. So einer Art New-Age-Tanzen mit imaginierten Tieren. Da entdeckte ich, dass meine Stimme ein Zentaur war. Also nicht nur sehr kraftvoll, die eines eigenständigen Menschen, sondern auch eines Pferdes, das einfach losgaloppiert. Die Erfahrung diese Energie im Körper zu haben, ermöglichte mir, zu verstehen, dass ich verpflichtet bin, meiner Stimme einen Raum zu geben, denn niemand sonst tut das für mich. Und nach diesem Tanz spürte ich, dass ich genügend Kraft für diese Mission hatte."

"Lyrik wird zuerst geopfert"

Mittlerweile ist Tal Nitzán eine der eigenwilligsten und wichtigsten israelischen Gegenwartsdichterinnen. Schon ihr Debütband, der vor 15 Jahren erschien, war vom israelischen Premierminister ausgezeichnet worden. Tal Nitzán engagiert sich politisch und sucht Verbindungen auch zu anderen Künstlern, lässt ihre Bücher von ihnen illustrieren und arbeitet mit Filmemachern oder wie bei dem Gedicht "Der weiche Punkt" mit dem Musiker Erez Rainman zusammen.
"Der weiche Punkt
Hier ist die weiche Stelle.
Auch wenn das Herz in seiner Stille
inmitten der Stadt versank wie ein Stein –
wisse: Dies ist der weiche Punkt."
"Man muss einfach sagen, heutzutage ist es schwer, in Israel Poesie zu veröffentlichen. Die gesamte Verlagslandschaft leidet unter der ökonomischen Situation und Lyrik wird zuerst geopfert, weil sie sich am wenigsten verkauft. Das zwingt uns dazu Selfpublisher zu werden. Aber man muss dabei sehr einfallsreich sein."
Mit Freunden organisiert Tal Nitzán daher Poesie-Festivals und hat ein Online-Magazin gegründet, bei dem sie eine der Herausgeberinnen ist: "the garage". Zehn Ausgaben gibt es schon, alle zwei Wochen erscheint eine weitere: geschriebene, gesprochene und verfilmte Lyrik, dazu Prosatexte und Illustrationen.

"Gedichte zu schreiben, ist etwas sehr Zartes"

"Ich glaube, dass Dichtung auch mittlerweile auf anderen Wegen zu den Leuten kommt. Online zum Beispiel oder durch literarische Events. Der traditionelle Gedichtband ist immer weniger selbstverständlich. Und immer schwieriger herzustellen."
Dennoch, gibt sie kämpferisch zu, möchte sie auf ihn nicht verzichten. Und bei allem Bewusstsein davon, dass die Gegenwart vielleicht dringlichere Fragen aufwirft als die nach Möglich- und Unmöglichkeit des Publizierens von Lyrik, besteht Tal Nitzán mit der Stimme eines Zentauren auf der Daseinsberechtigung von Gedichten. Es geht in ihnen um etwas und das ist alles andere als Spielerei.
"Lyrik ist sehr zerbrechlich. Gedichte zu schreiben, ist etwas sehr Zartes. Ständig von der Wirklichkeit bedroht, denn schon so banale Dinge wie der Einkauf im Supermarkt sind wichtiger als dieses absurde Lyrik schreiben. Um also existent zu werden, muss sich ein Gedicht ins Leben kämpfen. Es muss mich zwingen, geschrieben zu werden."
Auf Spanisch sagt man: "Wenn ein Baby nicht schreit, bekommt es nicht die Brust." Gedichte müssen also sehr laut schreien, damit ich mich hinsetze und sie schreibe. Sie müssen mich vom Schlafen abhalten.

Tal Nitzán: "Zu Deiner Frage. Gesammelte Gedichte"
Verlagshaus Berlin
164 Seiten
18,90 Euro

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