Luiz Ruffato: "Sonntage ohne Gott"

Stadtluft macht nicht frei

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Das Cover des Buchs "Sonntage ohne Gott" von Luiz Ruffato auf pastell farbenen Hintergrund.
"Sonntage ohne Gott" bietet keinen wohlfeilen Trost, aber die Chronik eines ebenso faszinierenden wie zutiefst zwiespältigen Landes. © Deutschlandradio / Assoziation A
Von Marko Martin · 16.03.2021
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Brasilien jenseits von Strand und Samba: "Sonntage ohne Gott" ist von Luiz Ruffatos ist eine packende literarische Chronik eines gespaltenen Landes. Dabei entgeht dem Autor kein Detail der nur scheinbar unspektakulären Lebenstragödien.
Der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato, 1961 in einer armen Migrantenfamilie im Bundesstaat Minais Gerais geboren, wurde hierzulande spätestens 2013 durch seine Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse bekannt.
Anstatt ein stereotypes Loblied des damaligen Gastlandes Brasilien zu singen, beschrieb Ruffato eine gespaltene Gesellschaft und Landschaften der Armut, der Ausgrenzung und der Gewalt. Die Regierungsbürokratie, damals noch unter der linken Präsidentin Dilma Rouseff, warf dem Schriftsteller "Nestbeschmutzung" vor, konnte ihn jedoch nur schlecht als "Ideologen" schmähen. Immerhin hatte er als Autor des fünfbändigen Zyklus "Vorläufige Hölle" die Literatur Brasiliens revolutioniert wie kaum ein Autor zuvor - und zwar nicht allein thematisch, sondern auch ästhetisch.

Suche nach dem großen Anderswo

Nun ist mit "Sonntage ohne Gott" auch der letzte Roman der Saga auf deutsch erschienen - in der wie stets fluiden Übersetzung von Michael Kegler, der ein feines Ohr hat für Slang, Rhythmus sowie regional und sozial geprägte Sprechweisen.
In Zeiten gewandelten Leseverhaltens und digitalisierter Schnelligkeit mag es dabei nicht gänzlich ohne Belang sein: Wie bereits die Vorgängerromane so zählen auch die "Sonntage ohne Gott" nur wenig mehr als hundert Seiten; bräsig naturalistische Epik ist also Luiz Ruffatos Sache nicht. Stattdessen eilen uns in literarischen Short Cuts auch diesmal wieder zahlreiche, fein ausdifferenzierte Charaktere entgegen - in unterschiedlichen Phasen ihres Alters und ihrer Wohnorte und bei ihren mehr oder minder scheiternden Versuchen, die Hoffnungslosigkeit ihrer ländlichen Herkunft hinter sich zu lassen auf der Suche nach dem großen Anderswo.

Autor früher Popcornverkäufer

Doch wie etwa die schier übermächtige Bildungsbarriere überspringen, wenn kein Geld für weiterführende Schulen zur Verfügung steht und deshalb seit Generationen in Familie und Nachbarschaft - ganz gleich, ob nun weiß- oder schwarzhäutig - lediglich das vage Kompensationsgerede vom schnellen Erfolg in der großen fernen Stadt zu hören ist?
Luiz Ruffato entgeht kein Detail dieser nur scheinbar unspektakulären Lebenstragödien, kein Geruch, kein Geräusch und keine stimmliche Nuance. Wobei ihm oftmals nur ein einziger Satz genügt, um eine ganze Welt zu evozieren, so klein und eng sie auch sein mag. Da er doch aus genuin eigener Erfahrung weiß, wie sich Armut anfühlt und noch Jahrzehnte später wie ein Fettfilm auf der Haut klebt, den man schamhaft weg zu reiben versucht. Ehe er zum gefeierten Romancier geworden war, hatte sich Ruffato in seiner Jugend als Popcorn-Verkäufer und Dreher-Lehrling durchschlagen müssen.

Vibrierende Prosa

Anders aber als viele seiner Romanfiguren hatte zumindest er es schließlich nach Sao Paulo geschafft, ohne im Metropolenmoloch unterzugehen. Freilich hatte ihm dabei nicht die Ideologie einer illusionären Selbstoptimierung geholfen, sondern einige gute Zufälle und nicht minder gute Menschen.
In anderen Worten: Ruffatos eigene Geschichte hätte durchaus böse ausgehen können. Auch deshalb bieten die "Sonntage ohne Gott" in all ihrer vibrierenden Prosa keinerlei wohlfeilen Trost: Anders als man einst im Mittelalter glaubte, macht Stadtluft eben nicht automatisch frei, schon gar nicht im gegenwärtigen Brasilien, das in Luiz Ruffatos Beschreibung weniger als moderne kapitalistische Gesellschaft erscheint, sondern eher als ein vormoderner Ständestaat, jenseits von Aufklärung und Aufstiegschancen. Wer sich noch immer wundert, dass dort ein Rechtsextremer wie Jair Bolsonaro Präsident werden konnte und in dieser Funktion bis heute die tödliche Gefahr der Corona-Pandemie frivol wegwitzelt, lese Luiz Ruffatos Romane. Ohne je in prophetische Rhetorik zu verfallen, sind sie die genaueste literarische Chronik eines ebenso faszinierenden wie zutiefst zwiespältigen Landes.

Luiz Ruffato: "Sonntage ohne Gott"
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2021
118 Seiten, 16 Euro

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