Lübecker "Initiative für Mehrsprachigkeit"

Vom Wert der kulturellen Identität

Grundschulkinder und die Schulleiterin singen und bewegen ihre Arme.
Syrische Flüchtlingskinder spielen und singen in einer Grundschule. © picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Von Nadine Dietrich · 25.12.2015
Mit den Flüchtlingskindern kommt auch eine Sprachenvielfalt nach Deutschland. Für deren Erhaltung setzt sich die Lübecker "Initiative für Mehrsprachigkeit" ein. Deren Mitglieder lesen den Kindern regelmäßig Geschichten in mehreren Sprachen vor.
"Der Löwe konnte nicht schreiben, störte ihn nicht, brüllen...
Jörg Böttcher von der Lübecker "Initiative für Mehrsprachigkeit" sitzt in der frisch eröffneten Bücherei der Grundschule Koggenweg in Lübecker Stadtteil Buntekuh.
" ....mitbrüllen! Uaah! Sah eine hübsche Löwin mit einem Buch..."
Die zehn, zwölf Kinder im Publikum brüllen fröhlich mit. Sie gehen in die vierte Klasse. Zwei von ihnen sprechen ausschließlich deutsch, alle anderen auch noch kurdisch, arabisch, persisch und russisch.
"Eines Tages traf der Löwe eine Löwin..".
In der Geschichte möchte der Löwe seiner Herzensdame einen Brief schicken und bittet verschiedene Tiere darum, ihr in seinem Namen ein paar Zeilen zu schreiben – und jedes Mal geht etwas schief. Der Affe zum Beispiel lädt sie zum Bananen-Essen ein...
"Der Löwe hat den Brief auch auf Persisch geschrieben, deswegen liest ihn Parva vor...(er liest auf Persisch vor). – Löwe ist sauer – Kinder brüllen wie die Löwen..."
Gleichwertiges Nebeneinander der Sprachen
Die Kinder hören alle Briefe der Tiere auch in persischer Sprache. Parvaneh Soudikani, die vor zwei Jahren aus dem Iran geflohen ist, liest ihn vor und erzählt:
"Meine Kinder können ohne Akzent deutsch sprechen, ich habe keine Angst vor der deutschen Sprache. In der Schule und mit deutschen Freunden können sie acht Stunden am Tag sprechen. Wenn sie Zuhause auch deutsch sprechen, dann können sie die Muttersprache nicht behalten. Für mich ist es sehr wichtig, die Muttersprache behalten."
Persisch sei ihre Herzenssprache, sagt Parvaneh Soudikani. Und trotzdem sei es schwer, die Muttersprache zu pflegen, wenn man fast täglich gesagt bekäme: "Sprechen Sie deutsch mit Ihren Kindern!". Das gleichwertige Nebeneinander der Sprachen bei der Lesung findet sie besonders wichtig.
Die Ideen der Mitbegründerin Farsaneh Samadi
Die Idee dazu hatte Farsaneh Samadi, sie wurde als Tochter zweier Iraner in Deutschland geboren. Sie ist Mitbegründerin der Lübecker Initiative für Mehrsprachigkeit und sagt:
"Das ist für die Persönlichkeitsentwicklung unglaublich wichtig, weil durch Sprache eben auch kulturelle Eigenheiten vermittelt werden. Wenn man abgeschnitten ist von der Muttersprache, dann fehlen einem auch bestimmte Wurzeln.
"Da kam die Löwin und fragte: Warum hast du mir denn nicht selbst geschrieben? – Wer will das wissen?"
Jörg Böttcher liest die Geschichte zu Ende: der Löwe gesteht seiner Löwin, dass er nicht schreiben kann. Und die zeigt ihm dann, wie man schreibt.
Die Kinder, deren Muttersprache kurdisch ist, gucken sich an: Sie haben tatsächlich etwas vom Persischen verstanden!
"Ich hab "Gruß Löwe" verstanden, das heißt bei uns im Kurdischen auch "Schich" – nein das heißt doch "Milch" – Schich ist Löwe! – nein Milch! – das heißt beides Schich: Löwe und Milch! – Ja, das stimmt. – Ich versteh nur Bahnhof! – Bahnhof? – Wieso Bahnhof? - Das heißt, dass ich gar nichts verstehe.
Wechsel zwischen Kurdisch und Deutsch
Schnell geht es darum, mit welcher Sprache sie Zuhause sprechen.
(Umfrage): "Ich rede mit meinem Vater und meiner Mutter kurdisch. Die können ja nur bisschen deutsch. Mit meiner Schwester und meinem Bruder spreche ich auch kurdisch, aber meistens deutsch. Weil ich das gut kann. Wir lernen das mehr als Kurdisch."
"Ich spreche deutsch mit meiner Mutter, und mit meinem Vater auch deutsch – und türkisch. – Frage: Mit wem sprichst du denn dann türkisch? – Mit allen. Mit meiner Mutter, meiner kleinen Schwester, mit meinem Vater. Aber ich spreche auch deutsch."
"Ich hab noch mal eine Frage: Warum habt ihr das nicht erst in Deutsch vorgelesen, die Brief und so, und dann noch mal alles in Persisch? – Das ist eine super Idee, hast du Lust gehabt, die Sprache noch einmal zu hören? – Ja.. – Ja toll!"
Projekt "Papa macht Radio"
Drei Viertel aller Kinder in der Grundschule Koggenweg haben einen Migrationshintergrund. 200 der 240 Kinder haben Eltern, die von Hartz IV leben. Die Initiative Mehrsprachigkeit hat sich deshalb das Projekt "Papa macht Radio" ausgedacht, bei dem Väter mit Migrationshintergrund zu einem Hörspielprojekt zusammenkommen. Lese- und Sprachförderung einmal anders, sagt Farsaneh Samadi:
"Väter animieren, vorzulesen, aufnehmen, es ist schwer, Väter zum Lesen zu bewegen. Väter mit Migrationshintergrund lesen noch mal weniger vor. Wir haben Mittel der Technik gewählt, um sie anzulocken."
Für diese Idee hat die Initiative für Mehrsprachigkeit aus Lübeck vor kurzem den Deutschen Lesepreis der "Stiftung Lesen" in der Kategorie "Ideen für morgen" erhalten. Das Preisgeld in Höhe von 6.000 Euro ist dafür gedacht, diese Idee realisieren zu können.
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