"Loverboys" - eine neue Dimension der Prostitution

Bärbel Kannemann im Gespräch mit Joachim Scholl · 18.11.2010
"Loverboys"- das sind junge Männer, die Mädchen die große Liebe vortäuschen, um sie später zur Prostitution zu zwingen. Ihre Opfer finden sie in Internet-Foren. Die Schülerinnen werden mit Fotos oder Filmen, die sie bei Vergewaltigungen zeigen, erpresst und so abhängig gemacht.
Joachim Scholl: Eigentlich ist es ein romantisches Wort: "Loverboys", doch dahinter verbirgt sich brutale Gewalt und Zwangsprostitution. Loverboys verführen junge Mädchen, sprechen von der großen Liebe, machen Geschenke, und bringen ihre Opfer schließlich völlig unter ihre Kontrolle. In Holland ist das kriminelle Phänomen weit verbreitet, man spricht von mehreren tausend Fällen. In Deutschland kämpft Bärbel Kannemann um Aufmerksamkeit, sie arbeitet für die Stiftung "Stop Loverboys NU" – stoppt Loverboys jetzt, denn längst sind auch hierzulande Loverboys aktiv. Bärbel Kannemann ist zu uns ins Studio gekommen, ich grüße Sie!

Bärbel Kannemann: Hallo!

Scholl: Man kennt das Prinzip ja aus vielen Krimis, Frau Kannemann, das arglose Mädchen, das von einem Zuhälter mit Versprechungen und Geschenken in die Prostitution gelockt und dann dazu gezwungen wird. Was unterscheidet denn einen Loverboy von einem solchen gewöhnlichen Zuhälter?

Kannemann: Da ist ein ganz großer Unterschied. Ein Zuhälter ist ja nach der Definition eigentlich ein Beschützer der Prostituierten, und bekommt für diesen Schutz einen Teil ihres Lohnes. Ein Loverboy bekommt alles. Das Mädchen gehört dem Loverboy. Sie muss alles machen, was er sagt, und alles Geld abliefern.

Scholl: Wie genau gehen Loverboys vor?

Kannemann: Es gibt eigentlich zwei unterschiedliche Wege, die Kontaktaufnahme zwischen den Mädchen und den Loverboys, wobei sich das in letzter Zeit überwiegend aufs Internet konzentriert. Es gibt viele Foren, auf denen gerade ganz junge Mädchen Kontakte suchen, und manchmal weist ja schon der Name der Foren darauf hin, was die Mädchen suchen. Ein Beispiel: knuddel.de: Da, denke ich, weiß jeder Mann, was das Mädchen sucht, Geborgenheit, Zärtlichkeit. Und genau das versprechen die Loverboys den Mädchen.

Scholl: Was sind das für Mädchen, die sich die Loverboys aussuchen?

Kannemann: Jedes Mädchen kann Opfer von Loverboys werden. Früher hat man immer gesagt, es sind Mädchen, naive Mädchen, wenig intelligente Mädchen, Mädchen aus asozialen Familien. Das trifft überhaupt nicht mehr zu. Heute ist es eigentlich so, dass jedes Mädchen Opfer werden kann, aus jeder Familie, aus jeder sozialen Schicht und jeder Nationalität.

Scholl: Sie kennen viele schlimme Geschichten von Opfern, Frau Kannemann. Wenn man als Außenstehender davon hört, denkt man: Wie kann das eigentlich funktionieren? Da spricht ein Kerl ein Mädchen an, verdreht ihr den Kopf, und dann plötzlich rückt der damit raus, dass sie also für ihn auf den Strich gehen soll oder ins Bordell, sich prostituieren soll. Jedes Mädchen muss doch schnurstracks zur Polizei laufen oder schreiend zu den Eltern, wenn es sich jetzt plötzlich also so hergeben soll.

Kannemann: Die Kontakte werden, wie gesagt, übers Internet gemacht. Man mailt ein paar Mal. Die Loverboys erfahren ganz viel Persönliches in diesem Bereich. Und sie gehen dann auf das Mädchen ein. Man trifft sich, man trifft sich an sicheren Orten, Fastfood-Restaurants, Kinos, Eisdielen, und das Mädchen hat überhaupt gar keine Bedenken, sich weiter mit ihm zu treffen. Und dann kommt vielleicht eine Geschichte - "Du, mein Bruder hat Geburtstag. Ich muss mich da einfach mal ganz kurz sehen lassen. Wir fahren mal eben vorbei, hast du Lust, mitzukommen?"

Das Mädchen hat keine Bedenken einzusteigen, sie fühlt sich ja sicher. Er hat sich ja auch vorher immer mit ihr gezeigt, mit Freunden zusammen, und sie steigt ein. Die Fahrt geht natürlich nicht zum Geburtstag des Bruders, sie geht an irgendeinen abgelegenen Ort, da warten schon seine Freunde. In der Regel ist es so, dass er die Ehre hat, sie als Erster vergewaltigen zu können. Die anderen stehen drum herum, lachen, machen Fotos, Filmaufnahmen, amüsieren sich, amüsieren sich, wie sie Angst hat, wie sie sich schämt. Und dann kommt einer nach dem anderen dran und vergewaltigt sie. Und dann wird sie erpresst, und man sagt, du machst in Zukunft, was wir wollen, oder wir zeigen diese Aufnahmen im Internet.

Scholl: Zur perfiden Praxis dieser Loverboys gehört auch, dass die Mädchen oft in ihrem sozialen Umfeld bleiben, also morgens zur Schule gehen und nachmittags dann, ja, zur Prostitution gezwungen werden. Das heißt also, die psychische Abhängigkeit wird so hoch, dass die Opfer solch ein Doppelleben führen und auch aushalten?

Kannemann: Das Schlimme ist ja, dass die Mädchen nicht nur in ihrem Umfeld bleiben, dass sie weiter zur Schule gehen, das Schlimme ist ja, dass die Loverboys teilweise zu den Familien nach Hause kommen, sich bei den Eltern als gute Freunde vorstellen. Und ich kenne Familien, da haben die Eltern gesagt, wenn die Mädchen abends weggehen wollten: Aber du gehst nur mit dem und dem, der passt auf dich auf. Und das ist natürlich eine ganz schreckliche Situation für die Eltern. Wie sollen die Eltern damit fertigwerden, dass sie eigentlich ihre Tochter in die Hände eines Vergewaltigers, Menschenhändlers gegeben haben?

Scholl: Die Zuhälterpraxis der Loverboys. Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Bärbel Kannemann von der Siftung StopLoverboysNU – stoppt Loverboys jetzt. Wir wollen gleich vertiefen, was Eltern tun können, Frau Kannemann, aber zunächst: In Holland ist diese Kriminalität öffentliches Thema, schon länger, Experten sprechen von bis zu 5000 Fällen. In Deutschland hat man bislang nur vereinzelt von diesem Problem gehört. Aber Sie sagen, dass es längst bei uns existiert.

Kannemann: Das Problem ist eigentlich in Deutschland auch schon längere Zeit bekannt. Aber ich erfahre es auch immer wieder, wenn sich Mädchen oder Eltern bei mir melden, dass sie sagen: Wir wussten bis jetzt nicht, mit wem wir darüber reden sollen. Wir sind davon ausgegangen, es betrifft nur mich, oder nur unsere Familie. Und es ist natürlich eine ganz große Hemmschwelle, darüber zu reden. Wie können Eltern erzählen, dass ihre zwölfjährige Tochter als Prostituierte arbeitet? Das kann man nicht, das traut man sich nicht.

Scholl: Sie arbeiten mit der Stiftung StopLoverboys zusammen, halten Vorträge, versuchen aufzuklären, heute Abend etwa auf einer Veranstaltung in Heidelberg. Wie können sich Mädchen gegen Loverboys schützen?

Kannemann: Das Wichtigste überhaupt ist, darüber zu reden. In dem Moment, wo viele Leute davon wissen, dass es mich oder meine Tochter getroffen haben kann, bin ich nicht mehr so leicht erpressbar. Ich kann Hilfe in Anspruch nehmen, ich kann Fragen stellen, ich habe einfach die Möglichkeit, aus diesem Dunkelfeld rauszukommen. Und das macht es den Loverboys schwerer, mich wie eine Gefangene oder Leibeigene zu halten.

Scholl: Was können denn Eltern tun?

Kannemann: Für Eltern ist es erst mal schwierig, die Anzeichen zu erkennen, wenn sie das Problem nicht kennen. Ich habe eine Mutter, die hat mir gesagt, sie wird zum Beispiel damit nicht fertig, dass sie ihrer Tochter zwei Jahre lang verboten hat, drei Mal am Tag eine Stunde zu duschen. Sie hat ganz klar gesagt: "Du, Wasser kostet auch Geld, das muss nicht sein." Heute weiß sie, dass ihre Tochter immer nach einer Vergewaltigung geduscht hat.

Scholl: Was sind denn weitere Anzeichen dafür, dass ein Mädchen in den Fängen solcher Typen ist?

Kannemann: Die Mädchen zeigen eigentlich für das Alter typische Anzeichen, die ganz normalen Schwierigkeiten in der Pubertät. Und ich denke, nur wenn mehrere Anzeichen zusammentreffen, zum Beispiel, dass die Mädchen ihren Kleidungsstil verändern, dass sie stärker geschminkt sind, dass es viele Fehlzeiten in der Schule gibt, dass die Mädchen sich ritzen, sich selbst verletzen, dass sie auch im Sommer mit langärmligen Blusen oder T-Shirts rumlaufen, um die blauen Flecken zu verdecken – das können Hinweise sein, aber immer natürlich nur, wenn mehrere Sachen zusammenkommen.

Scholl: Was raten Sie Eltern, wenn Sie diese Anzeichen bemerken? An wen wenden sie sich? Man denkt ja erst mal: Ruft die Polizei an!

Kannemann: Es ist schwierig. Es ist in Deutschland im Moment noch sehr schwer, Ansprechpartner zu nennen. Ich denke mal, in erster Linie sind es natürlich die Jugendämter, es sind natürlich auch Beratungsstellen der Polizei. Aber ich denke mal, ganz wichtig ist es einfach, dass die Eltern lernen, dieselbe Sprache zu sprechen wie die Mädchen, und im richtigen Ton mit den Mädchen reden zu können, und sich nicht schämen müssen, wenn sie dieses Thema ansprechen.

Scholl: Welche Hilfe kann Ihre Stiftung anbieten?

Kannemann: Das ist auch wieder sehr unterschiedlich in Holland und in Deutschland, in Deutschland bieten wir im Moment eigentlich überwiegend Hilfe an, indem wir über das Thema reden, indem wir auf das Problem aufmerksam machen. Wir fangen jetzt an, Vorträge an Schulen zu halten, Vorträge vor Mitarbeitern von Jugendämtern, Polizei, Hilfsorganisationen, das ist eigentlich das, was wir im Moment in Deutschland machen. In Holland läuft da viel mehr, da machen wir Elternabende, wir arbeiten zusammen mit der Polizei, mit Jugendämtern, und vor allen Dingen, wir holen die Mädchen auch direkt raus.

Scholl: Solcherlei Kriminalität, Frau Kannemann, hat ja auch diese neue Dimension - weg vom klassischen Rotlichtmilieu hin, könnte man sagen, ja, so zum bürgerlichen Alltag, mitten in der Gesellschaft. Hat sich unsere Gesellschaft so entwickelt, dass solche Sachen passieren dürfen? Man fasst sich ja an den Kopf, wenn man das hört, und sagt, das darf ja eigentlich nicht wahr sein.

Kannemann: Ich weiß nicht, ob sich die Gesellschaft verändert hat. Das kann und will ich nicht beurteilen. Ich denke aber, dass sich durch das Internet viel verändert hat. Alles ist anonymer, man redet über Dinge, die man in einem direkten Gespräch sicher nicht sagen würde. Die Mädchen stellen zum Beispiel Oben-ohne-Fotos ins Internet, weil der andere ist ja weit weg, dem stehe ich nicht gegenüber. Da muss ich mich nicht schämen, und ich kann mich auch unter anderem Namen melden. Und ich denke auch mal, dadurch, dass sexuell natürlich vieles freier geworden ist, verlieren die Mädchen, auch ganz junge Mädchen, häufig die Scheu. Und es herrscht sicher auch großes Unverständnis zwischen den Generationen, ich glaube, das ist auch ein Problem.

Scholl: Wenn ein betroffenes Mädchen jetzt vielleicht unser Gespräch hört, wie erreicht Sie Ihre Stiftung? Kann sie davon ausgehen, wenn sie Sie anruft, dass ihr geholfen wird?

Kannemann: Ich bin zurzeit nur übers Internet zu erreichen, das ist auch aus Sicherheitsgründen so. Wenn ich eine Weile Kontakt habe mit den Mädchen melde ich mich selbstverständlich auch, können wir am Telefon reden. Ich beantworte normalerweise jede Mail innerhalb weniger Stunden, sie kann sich unter falschem Namen melden, sie kann alles erzählen, sie muss sich für nichts schämen. Ich bin nicht die Polizei und ich bin nicht das Jugendamt.

Scholl: Und Sie können einem Opfer auch Zuflucht gewähren?

Kannemann: In Verbindung mit anderen Hilfsorganisationen.

Scholl: Loverboys, gegen ihre kriminellen Machenschaften kämpft Bärbel Kannemann, heute Abend informiert sie in Heidelberg über das Problem, auf einer Veranstaltung in der Stadtbücherei. Frau Kannemann, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Kannemann: Gern geschehen!