Lothar Gall: "Hardenberg – Reformer und Staatsmann"

Beamtenstaat und Lebenslust

Karl August von Hardenberg Bronzeplastik vor dem Berliner Abgeordnetenhaus in der Niederkirchner Straße
Bronzeplastik Karl August von Hardenberg vor dem Berliner Abgeordnetenhaus in der Niederkirchner Straße © Imago
Von Martin Ahrends · 01.10.2016
Karl August von Hardenberg gilt als Vater des modernen Staatswesens. Eine neue Biografie des Historikers Lothar Gall zeigt den Eros der Politik im 19. Jahrhundert zwischen den Herrschaftsansprüchen der Fürsten und dem diplomatischen Geschick eines ersten Staatsbeamten.
In den Studentenjahren macht Karl August von Hardenberg Aufzeichnungen über seinen Gesundheitszustand und berichtet über fröhliche Zusammenkünfte, bei denen stark getrunken wurde. Auch dies ist dort zu lesen:
"Liederlich war ich nie, aber des Vergnügens der Liebe genoß ich in gewissen Epochen meines Lebens viel und wohl zuweilen im Übermaß."
Der Erfinder des preußischen Beamtenstaates war ein sinnenfroher Mann, der einem großzügigen, wenn nicht sogar verschwenderischen Lebensstil zuneigte. Doch es ist nicht als Gegensatz des Privatmenschen und des Politikers zu verstehen, sondern als dessen Konsequenz: Der Mann hatte ein Temperament, das sich ebensowohl im privaten wie im politischen Raum leben ließ, er war Politiker aus Leidenschaft.
Es sind also nicht nur, wie auf dem Buchrücken annonciert, die menschlich-allzumenschlichen Seiten Hardenbergs, die hier episodisch eingestreut werden. Wie ein guter Romancier bleibt Lothar Gall den konkreten Motiven Hardenbergs auf der Spur, seinem Machtinstinkt und seinen aufgeklärt-vernünftigen Staatsideen, zwei ganz unterschiedlichen und doch zusammengehörigen Quellen von Erfolg und Scheitern. Am Beispiel Hardenbergs beschreibt er das Dilemma wohl jedes Politikers zwischen Herrschen und Dienen: Herrschen zu müssen, um dienen zu können. Das hält die Lektüre spannend.

Das ganze Leben die Revolution im Herzen getragen

Vor diesem Buch wusste ich wenig vom Eros des Politikers, der seinen Staat erobern will, um ihn zu befruchten. Ich wusste nicht, wie es sich anfühlt, wenn man sein Lebtag eine Revolution in Kopf und Herzen trägt, sie aber nur millimeterweise umsetzen kann und dennoch sein Ziel bei allen Rückschlägen und Rückzügen nie aus dem Blick zu verlieren. Ich wusste wenig von den Qualitäten des Berufspolitikers, die zugleich seine Gefährdungen sind: Dieses besondere Maß an Hartnäckigkeit und diplomatischem Geschick, aber eben auch die Lust an Einfluss und Geltung, die Lust, anderen Menschen zu gebieten oder sie geschickt für eigene Zwecke zu gewinnen und einzuspannen.
Als Hardenberg endlich an sein Ziel gelangt, ist er ein alter Mann. Er ist preußischer Staatskanzler, seine Revolution von oben ist allerdings auf halbem Wege steckengeblieben. Erst nach 1945, so der Autor, sollte sie vollendet werden. Schon in seinen jungen Jahren war Hardenberg zu der Einsicht gelangt, das preußische Staatswesen sei nicht reformierbar. Anders als die französische Revolution von unten wollte er die preußische von oben her vollziehen. Seine Vorschläge als hannoverscher Kammerrat von 1776 hatten schon die Prinzipien zur Grundlage, an denen er Zeit seines Lebens festhielt.
Hardenberg wollte den Staat durch eine verwaltungstechnische Struktur erneuern, an deren Spitze ein Monarch steht, der nicht alle Fäden, sondern nur den Knoten in der Hand hält. Seine Vorschläge wanderten damals ohne weitere Erörterung zu den Akten.
Erst die Bedrängnisse der französischen Besatzung gaben seinen Ideen für einen effektiven Staat ohne Korruption und Günstlingswirtschaft neuen Auftrieb, woraufhin sie zögerlich und stückweise in die Tat umgesetzt wurden. Erst mit dem …
"...Edikt über die Erhebung der Beiträge zur Verpflegung der französischen Truppen in den Oderfestungen und auf den Märschen mittels einer Klassensteuer ..."
… wurde 1811 die erste allgemeine Einkommensteuer in Preußen erhoben. Der Krieg als Lokomotive der Geschichte? Zumindest für Preußen scheint das zuzutreffen. Aber dazu bedurfte es eben auch so begabter und ambitionierter "Lokomotivführer" wie Hardenberg, der sich in seinem langen politischen Leben immer wieder zurückgesetzt, gar ins Exil versetzt sah oder sich resigniert selbst aus dem politischen Verkehr zog. Doch nur, um bei günstiger Gelegenheit wieder aufzutauchen am Hofe Friedrich Wilhelms III. und der Hardenberg so wohlgesonnenen Königin Luise.

Gewandter Tänzer auf dem politischen Parkett

Die Politik war ihm auch Abenteuer, auch ein Spiel, in dem er immer wieder mitmischen wollte, weil es dabei nicht nur um die "Veredlung des Menschen" ging, sondern eben auch einen spannenden Balanceakt. Wir lernen Hardenberg als einen zunehmend gewandten Tänzer auf dem politischen Parkett kennen, der lebenslang lernt, die politischen Gewichte seiner Zeit auszubalancieren.
Und das auf mehreren Schauplätzen: Innenpolitisch trifft sein Versuch, den politischen Raum zu rationalisieren auf diverse irrationale Unwägbarkeiten zwischen den Kräften der Erneuerung und denen der Restauration. Dies wiederum hatte er in Balance zu bringen gegenüber einem auf Ausgleich bedachten, eher defensiven, um nicht zu sagen konfliktscheuen Monarchen.
Außenpolitisch galt es Balance zu halten zwischen den rivalisierenden europäischen Großmächten. Es galt aber auch die mentale Balance zu wahren zwischen der Demütigung der napoleonischen Besatzung und den Chancen, die sie für Hardenbergs Erneuerungspläne bot. Eine Niederlage im Krieg als historischer Freiraum für politische Weisheit – der Autor lässt dies scheinbare Paradoxon seinen Lesern plausibel werden.
Lothar Gall hatte in seiner beruflichen Laufbahn viel mit Studierenden zu tun, er weiß sich unterhaltsam aufs Wesentliche zu konzentrieren, ohne dabei seine innere Beteiligung an historischen Vorgängen zu verleugnen, die bis heute so deutlich nachwirken.

Alles dem unbedingten Machtstreben untergeordnet

Mit Galls präziser Beschreibung der gefährlichen Großmachtspiele jener "Franzosenzeit" tritt dem Leser deutlich vor Augen, was mit dem Projekt Europa heute auf dem Spiel steht. Dabei hält sich der Autor mit einem eigenen Urteil weitgehend zurück, erst am Schluss gibt er so etwas wie ein Resümee:
"Ob sich Hardenberg in seinen letzten Monaten bewusst war, dass seine politische Karriere am Ende war und Metternich, der die Politik der nächsten Jahrzehnte bestimmen würde, über ihn und seine politischen Ziele triumphiert hatte, steht dahin. Der Historiker wird freilich um ein solches Urteil nicht herumkommen. Zwar hat Hardenberg ganz ohne Zweifel das Gesicht Preußens in außen- wie vor allem in innenpolitischer Hinsicht weitgehend geformt. Aber die politische Zukunft des Landes haben über viele Jahrzehnte, ja fast bis zum Ende des Staates, Hardenbergs politische Gegner bestimmt. (...) Insofern wird man sagen müssen, dass sein politisches Lebenswerk, trotz vieler Erfolge im Einzelnen, letztlich gescheitert ist und er dieses Scheitern nicht, wie etwa Wilhelm von Humboldt, vornehmlich den äußeren Umständen anlasten konnte, sondern es auch seinem eigenen Handeln zuschreiben musste, das am Ende alles andere, auch das, wofür er in all den Jahren eingetreten war, seinem unbedingten Machtstreben unterordnete."
Diese bewusst leichtfüßige Art des Schreibens macht den komplexen historischen Stoff einem breiten Publikum zugänglich und das ganze Buch zur genießbaren Lektüre.

Lothar Gall: Hardenberg – Reformer und Staatsmann
Piper Verlag, 2016
304 Seiten, 24 Euro

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