Loïc Merle: "Allein, unbesiegt"

Im Schattenreich der Seelen und Herzen

Ein komplett ausgestattetes Patientenzimmer, aufgenommen bei Dreharbeiten der TV-Serie "In aller Freundschaft - Die jungen Ärzte" im Studio in Erfurt
Wie der pseudochristliche Anführer einer obskuren Gemeinschaft residiert Kerim, eine Hauptfigur von Loïc Merles Roman "Allein, unbesiegt", in seinem Krankenzimmer. © dpa / picture alliance / Martin Schutt
Von Claudia Kramatschek · 24.02.2016
Der Franzose Loïc Merle feiert exzessiv die Freundschaft mit seinem Roman "Allein, unbesiegt" – doch in die Feier mischen sich Schuld, Sühne und zwielichtige Gestalten. Auch Merles zweites Buch könnte die Leser wieder trunken machen.
2013 debütierte der damals 35-jährige Schriftsteller Loïc Merle mit einem Roman über den Aufstand in einer französischen Banlieue. "L'esprit de l'ivresse" (Der Geist der Trunkenheit) lautete der gleißende Titel dieses Romans. Trunken vom gleichermaßen opaken wie leuchtenden Stil des Autors waren auch die Leser und Leserinnen; die Zeitschrift "Lire" zeichnete den Roman im gleichen Jahr als bestes Debüt aus. Bereits Ende 2014 erschien Loïc Merles zweiter Roman "Seul, invaincu" – und ist nun unter dem Titel "Allein, unbesiegt" ins Deutsche übertragen worden von der renommierten Übersetzerin Claudia Steinitz.
Eine weise Entscheidung, denn Loïc Merle pflegt einen sehr eigenen, idiosynkratischen Stil: voller Rhythmus, voller Bewegung und nervöser Anspannung, wie auf dem Sprung, dabei in einer perfekt austarierten Mischung zwischen sprödem Realismus und lyrischem modernen Märchen. Den am Rand der Gesellschaft Stehenden ist er auch in diesem Roman treu geblieben, ebenso dem Geist der Trunkenheit, der diesmal noch stärker ein Geist des Kampfes ist.
Im Mittelpunkt von "Allein, unbesiegt" steht nämlich eine Männerfreundschaft, in der die Kräfte der Anziehung ebenso wirken wie die der gegenseitigen Abstoßung. Der Roman selbst beginnt mit der Rückkehr des einen – Charles Zalick ist sein Name, und er ist der Ich-Erzähler, der uns rückblickend von dem Ringen in dieser Freundschaft erzählt. Dieser Charles ist Soldat und lässt alles stehen und liegen, als er inmitten der Wüste die Nachricht erhält, dass sein Jugendfreund Kerim San an Krebs erkrankt ist und im Krankenhaus ihrer gemeinsamen Heimatstadt liegt.

Dunkle Ökonomie der menschlichen Bindungen

Sieben Jahre zuvor hat Charles diesen Ort verlassen – nicht zuletzt, um Kerim zu entkommen, der schon früh über Charles' Leben und Gefühle verfügt hat. Gleichheit gab es zwischen ihnen nie wirklich. Auch nun, sieben Jahre später, wird ihr Kräfteverhältnis erneut auf die Probe gestellt. Denn Kerim – schon in seiner Jugend in zwielichtige Geschäfte verstrickt – ist zwar geschwächt von der Krankheit. Doch residiert er in seinem Krankenzimmer wie der pseudochristliche Anführer einer obskuren Gemeinschaft von Marginalisierten: Tagtäglich und zur Unbill von Charles treffen undurchsichtige Gestalten in Kerims Zimmer ein, der sich noch immer als Wohltäter des Ortes geriert.
Bald benötigt auch Charles die Hilfe des Freundes: eine Pariser Liebschaft wird ihm zum Verhängnis, er desertiert aus der Armee und muss sich mithilfe des Freundes verstecken. Nicht alle Handlungsstränge überzeugen, was nicht zuletzt daher rührt, dass Loïc Merle vor allem eines geschrieben hat: einen durch und durch symbolischen Roman über die dunkle Ökonomie der menschlichen Bindungen, der die Metapher des Kampfes ebenso aufruft wie eine religiöse Terminologie, um seine Leser in das Schattenreich unserer Seelen und Herzen zu führen.
Die Freundschaft feiert dieser Roman so exzessiv wie andere Romane die Liebe. Doch es ist eine Feier, in die sich Schuld und Sühne mischen – und in der wir daran erinnert werden, dass es einzig unsere unüberbrückbare Einsamkeit ist, die uns in den Spiegel des Anderen blicken lässt, in dem wir nichts sehen außer uns selbst.

Loïc Merle: "Allein, unbesiegt"
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Liebeskind Verlag, München 2016
206 Seiten, 20 Euro

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