Literaturfestival Berlin

Wie soziale Ungleichheit verhindert werden kann

Nobelpreisträger Angus Deaton im Dezember 2015.
Deaton geht davon aus, dass der entscheidende Grund für das steigende Wohlergehen nicht mehr Einkommen, sondern mehr Wissen ist. © imago/SKATA
Von Jochen Stöckmann · 12.09.2016
Was bedeutet soziale Ungleichheit für unsere Gesellschaft? Bei einem Symposium im Rahmen des Literaturfestivals Berlin diskutierten darüber prominente Wirtschaftsexperten wie Nobelpreisträger Angus Deaton. Die gute Nachricht: Die Zahl der in Armut lebenden Menschen geht zurück.
"Sie werden neidisch, wenn andere viel verdienen. Ökonomen sagen: Einige werden reich, dem Rest geht es nicht schlecht, wo ist das Problem? Aber wenn eine reiche Minderheit keinen Wert mehr legt auf öffentliche Vorsorge oder Schulen, dann gefährdet Ungleichheit der Einkommen Gesundheit, Bildung – und schließlich unsere Demokratie."
Seiner Warnung lässt Angus Deaton, Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger, die gute Nachricht folgen: Die Zahl der in Armut lebenden Menschen geht zurück, von zwei Milliarden Mitte der 80er-Jahre auf heute noch eine Milliarde. Und Ungleichheit kann auch positive Ursachen haben, etwa Technologiefirmen, die neue, hilfreiche Produkte entwickeln und das reale Wachstum ankurbeln.
Michael Hudson dagegen analysiert ein parasitäres und selbstzerstörerisches Bankensystem: Kredite dienen nicht mehr der Wirtschaft, sondern sind zur fast schon automatisch sprudelnden Einnahmequelle degeneriert:
"Das Wirtschaftswachstum geht für Zinsen an die Banken. Da bleibt nichts für Sozialausgaben, politische Gestaltungsmöglichkeiten schrumpfen. Nur der Finanzsektor wächst: durch Zinsen, mit mathematischer Gesetzmäßigkeit."

"iPhones werden wie Spielzeug klassifiziert"

Hudson erkennt ein strukturelles Problem, wo Deaton die Gewinnsucht einzelner Superreicher, das "rent-seeking" beklagt. Auch die These des Nobelpreisträgers, dass Ungleichheit Menschen dazu antreiben kann, ihre Lage nach dem Vorbild erfolgreicher Wirtschafts-"Akteure" zu verbessern, verwirft Michael Hudson. Für ihn folgen Finanzinvestoren jenem Negativbild, das der klassische Ökonom John Stuart Mill von untätigen Grundbesitzern, den Landlords zeichnete:
"Sie schlafen und ihr Eigentum wächst. Banken allerdings suchen aktive Partner, die Geld für Immobilien leihen, Mieten hochtreiben – um die Zinsen zu zahlen. Aber selbst ein Donald Trump verdient damit kein Geld mehr, deshalb versucht er es jetzt als Präsident."
Die Trump hinterherlaufen, das weiß wiederum Angus Deaton, sind "ganze Bevölkerungsgruppen, die zurückgelassen werden". Ohne Aussicht auf Besserung ihrer prekären Lage suchen etwa ältere Arbeitslose ihren Mittelschicht-Status aggressiv zu verteidigen, durch Schuldzuweisung an Ausländer. Das genaue Gegenteil also jener alten sozialistischen Vision, die auf ihre Art "Ungleichheiten" kultivieren wollte in einer Gesellschaft ganz unterschiedlicher Persönlichkeiten: jeder nach seinen Fähigkeiten – nicht nach den finanziellen Möglichkeiten.
Auch dazu trägt Angus Deaton Bemerkenswertes vor: Zahlen mögen überzeugend wirken, aber es gilt sie zu interpretieren – und vor allem nicht mit Durchschnitts- oder Standardwerten zu argumentieren.
"Im Bruttoinlandsprodukt fehlen all die 'Extras', die wir unserem Geld abgewinnen. iPhones werden wie Spielzeug klassifiziert. Aber ich nutze mein iPhone als Zugang zur Welt der Literatur, der Musik."

Mehr als nur diffuser Protest

Was aber nützt das, wenn selbst diese an sich bescheidenen Ressourcen ungleich verteilt sind? Und wenn neben Eigenheim und Auto all die technischen Helferlein auf Pump gekauft werden? Also in jene private Schuldenfalle führen, die für den Anthropologen David Graeber Ursache der Übermacht eines zunehmend diktatorisch agierenden Finanzsektors sind. Als spiritus rector der Occupy-Bewegung sieht Graeber allerdings auch einen Hoffnungsschimmer:
"In der Occupy-Bewegung führen die ökonomische Verwerfungen zu neuen Bündnissen, einer Art Quer-Solidarität von Leuten, die vor Jahren verfeindet waren. Heute, mit all ihren Schulden, sitzen Studenten und Arbeiter im selben Boot."
Da regt sich mehr als nur diffuser Protest. Doch was bei der Besetzung der Wall Street idealerweise als selbstbestimmte, direkte Demokratie – also immer solidarisch mit anderen – erprobt wurde, ist als "self governance" zur Ware geworden, wird als "Selbstoptimierung" vermarktet. Größte Zielgruppe: die Opfer der Ungleichheit.
"Ich nenne das Individualfaschismus: Egal was passiert, Du trägst selbst die Verantwortung. Das wird Dir eingebläut. So verwandelt der Kapitalismus rebellische Bewegungen, etwa Selbsterfahrungsgruppen, in ihr Gegenteil, so tyrannisch wie nur möglich."
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