Literatur-Spiel

Schreiben wie Mommsen, Orwell und Isherwood

Der Historiker und Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen (1817−1903)
Der Historiker und Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen (1817−1903). Den Stil eines prominenten Autors überzeugend imitieren – darum geht es bei "Mimikry". © dpa / picture alliance
Von Gerd Brendel · 10.08.2015
Kennen Sie das Lexikonspiel? Dabei erfinden die Mitspieler fiktive Erklärungen zu Fremdwörtern. Ähnlich funktioniert "Mimikry – Das Spiel des Lesens": Der erste Satz eines Buches wird diktiert und dann müssen die Mitspieler den ersten Absatz neu schreiben. Auch die "Römische Geschichte" von Theodor Mommsen kam schon dran.
"Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu 'Mimikry - Spiel des Lesens'. Sie werden heute Romane zum Leben erweckt bekommen. Nicht nur ein einziges – nein, jeder Roman wird achtmal zum Leben erweckt und wir müssen Original und Double voneinander unterscheiden."
Glaubwürdiger schreiben als der Original-Autor
Ein Original und sieben Fälschungen. Sie auseinanderzuhalten – genau darum geht es bei "Mimikry- Spiel des Lesens":
"Dass man den Anfang eines Romans imitiert und nachschreibt, so dass die anderen dem auf den Leim gehen und nicht wirklich wissen, von wem das Original wirklich ist."
Erklärt Holm Friebe von der "Zentralen Intelligenz Agentur", der sich das Spiel zusammen mit seinen Mitstreitern ausgedacht hat. Keine leichte Aufgabe, selbst wenn die Musik aus der Verfilmung von Christopher Isherwoods "Lebwohl, Berlin" bekannt ist. Den berühmten Song hat Mitspieler Johannes Ponader in seiner Schauspielkarriere Dutzende Male aufgeführt, aber beim Erraten der originalen ersten Zeilen des Romans muss er genauso grübeln wie die anderen sieben Mitspieler, mich einbegriffen. Nach der Gesangseinlage sitzen wir am Esstisch unserer Schöneberger Gastgeberin vor einem leeren Blatt. Isherwoods erster Satz wird noch vom Spielleiter diktiert:
"Vor meinem Fenster die dunkle, ehrwürdige, gewaltige Straße. Punkt."
Es ist der erste Satz aus Isherwoods Berlin-Tagebuch. Irgendwann landet sein Ich-Erzähler im legendären Kitkat-Club, irgendwann trifft er die Tänzerin Sally Bowels, aber wie lautet der erste Absatz des Romans?
"Jeder kann Schriftsteller"
Nach einer Viertelstunde andächtigem Kritzeln wie bei einer Klassenarbeit sammelt der Spielleiter unsere Blätter ein und liest vor
"Unter mir vor der Laterne steht Frau Meyer und knutscht mit einem jungen Mann in einer Phantasieuniform mit einer Federboa..."
Oder sinniert Isherwood womöglich über seine neue Nachbarschaft?
"Das ganze Viertel sieht so aus. Mit Häusern wie riesige Geldschränke, vollgestopft mit vergilbten Wertgegenständen eines verarmten Mittelstands..."
Oder wird er von seiner strengen Zimmerwirtin Frollein Schröder in die Regeln der Zwangs-Wohngemeinschaft eingewiesen? Dieser Text stammt von mir. Immerhin zwei Mitspieler halten ihn für das Original. Punkt für mich. Mein Spieltrieb erwacht.
"Es war dieses Gefühl: Jeder kann Schriftsteller..."
...sagt unsere Gastgeberin, die Politologin Ulrike Guerot. Sie hat schon ein paarmal mitgespielt. Wie bei den meisten der mitspielenden Publizisten, Regisseure, Autoren oder Journalisten kann man ihre Biographie bei Wikipedia nachlesen: Ein Kreis professioneller Textarbeiter.
Immer wieder funkt das eigene Ich dazwischen
"Ich schreibe, um den Stil eines anderen Autors zu imitieren. Dann möchte ich natürlich diese Imitation so perfekt wie möglich abliefern, spüre aber die ganze Zeit, wie mein eigenes Ich dazwischen funkt und sich selbst ausdrücken möchte."
Der Zwiespalt, den meine Mitspielerin und Journalisten-Kollegin Annika von Taube beschreibt, führt dazu, dass mir das Schreiben genau soviel Spaß macht wie das Zuhören.
"Einerseits gibt es noch die bildungsbürgerliche Kompetenz-Tapete in den Wohnungen, das Bücherregal, das man braucht, um Bücher rauszuziehen."
Noch sind hier alle zuhause im Gutenberg-Universum, aber andererseits stehen sie alle schon mit einem Bein in der virtuellen Galaxie: Alle sind über Facebook befreundet und eingeladen worden, auch wenn sich einige noch nie gesehen haben. Die Bücher des Abends werden übrigens aus der "bildungsbürgerlichen Kompetenz-Tapete" der Gastgeber gewählt. Die Anfänge von „Pippi Langstrumpf", George Orwells "1984" oder Theodor Mommsens "Römische Geschichte" wurden so bei früheren Treffen schon neu geschrieben.
Gefühlvoller Kitsch druckreif überboten
An diesem Abend muss noch Noëlle Châtelets "Klatschmohnfrau" als Original herhalten. Die Geschichte eines zweiten Frühlings. Die ganz große Literatur ist das nicht, und die Mimikry-Versionen überbieten druckreif den Hang der Autorin zum gefühlvollen Kitsch. Dann gibt es Coq au vin und Aprikosentarte nach einem Originalrezept der Gastgeberin.
Ach so, der echte Isherwood-Text war übrigens die Version zwei:
"Das ganze Viertel sieht so aus. Mit Häusern wie riesige Geldschränke, vollgestopft mit vergilbten Wertgegenständen eines verarmten Mittelstands."