Literatur-Festival in der Schweiz

Natur-Utopie auf dem Monte Verità

Das Bild zeigt blaues Wasser mit einem roten Boot im Vordergrund, dahinter ist ein Hafen und ein Berg zu sehen, der Monte Verità.
Der Monte Verità in der Nähe des Lago Maggiore. © dpa / Ticino Turismo
Von Dirk Fuhrig · 25.03.2018
Früher war der Monte Verità, der "Berg der Wahrheit", im Tessin Anziehungspunkt für Aussteiger und Intellektuelle: Heutzutage findet dort das Literaturfestival "Eventi letterari Monte Verità" statt. In diesem Jahr ging es um die "Utopie von der Natur".
Erri de Luca liest den Beginn seines neuen Buches. Es geht darin um die Bergung Schiffbrüchiger auf dem Mittelmeer. De Luca war vor kurzem selbst an Bord eines Rettungsschiffs. Der 1950 in Neapel geborene Schriftsteller hat sich seit jeher für Entrechtete eingesetzt. Ein politisch engagierter Mensch und Autor. Zuletzt hatte er gegen ein Tunnelprojekt zwischen Italien und Frankeich demonstriert und war dafür vor Gericht gebracht worden. Damals war es ihm darum gegangen, die Natur zu retten.
Es hätte also kaum einen Besseren geben können, um das diesjährige Literaturfestival auf dem Monte Verità zu eröffnen. Für seine sechsten Ausgabe hatte sich das Schriftstellertreffen nämlich das Motto "Utopia della natura" gegeben – die Utopie von der Natur.

Die Verherrlichung der Natur hat Geschichte

"Von der ästhetischen Deutung der Natur zu dem naturwissenschaftlichen Zugang über Humboldt und Co. Von der drohenden Zerstörung des Planeten bis zum Glauben an einen unkontaminierbaren Rest. Und wenn nicht auf unserer Erde, dann im Kosmos, im Sonnensystem." So formulierte es Joachim Sartorius, der als künstlerischer Leiter dieses Festival an den beschaulichen Gestaden des Lago Maggiore vor einigen Jahren ins Leben gerufen hat.

"Gerade in einer postindustriellen Zivilisation bilden wir uns ein, die Natur verrate uns ihre Geheimnisse, wenn wir nur intensiv genug in sie hineinhören. Diese Verherrlichung der Natur war schon zu erkennen in der Flower Power der Hippies und in jenen Reform-Ideen, die vor mehr als 100 Jahren auf dem Monte Verità virulent waren."

Hesse und Frisch suchten hier die Utopie

Monte Verità – der "Berg der Wahrheit", hoch über dem gediegenen Dörfchen Ascona, einem der teuersten Flecken der Schweiz. Hier im Tessin hatten um 1900 Aussteiger aus Deutschland und Europa ihre Utopie vom Leben fern der städtischen Zivilisation zelebriert. Hermann Hesse und Gerhart Hauptmann zählten zu den berühmtesten Aussteigern im Geiste der Reformbewegung. Später sommerfrischelten in der Umgebung von Ascona auch Max Frisch, Golo Mann und viele weitere Intellektuelle.

"Ascona ist fantastisch, was die Stille betrifft. Aber meine Erfahrung sagt mir, dass die meisten Orte für Stille geeignet sind", sagt Erling Kagge, Extrem-Wanderer aus Norwegen, während wir gemeinsam auf den Lago Maggiore blicken, über den die ersten Strahlen der Frühlingssonne scheinen. "Als ich 15 Tage und Nächte lang auf den Südpol zugelaufen bin, war ich unter der Mitternachtssonne zwar ständig von Stille umgeben. Aber die Stille in mir selbst war letztlich viel wichtiger."

Die Natur als Gegenentwurf zum Alltag

Erling Kagge, ein kernig-unprätentiöser Sportler mit Zauselbart, hat auch noch den Mount Everest bestiegen. Und darüber Bücher geschrieben. "Stille – ein Wegweiser" heißt sein Bestseller.
Die Natur – ein Gegenbild zum hektischen Alltag mit Smartphones, Internet et cetera – ist DAS Thema dieses vielsprachigen Zusammentreffens von Schriftstellern, Philosophen, Naturwissenschaftlern hier am Monte Verità. Hans Joachim Schellnhuber war da, der bekannte Klimaforscher; Remo Bodei, der Bloch-, Adorno-und Hegel-Experte von der Universität Pisa. Die Berliner Schriftstellerin Judith Schalansky, die die erfolgreiche "Naturkunden"-Reihe herausgibt. Aber auch junge Nachwuchsautoren wie Antoine Rubin.

Antoine Rubin stammt aus der französischen Schweiz. Und er schreibt über die Schönheiten des Jura. Aber auch über den Massentourismus der Skifahrer, durch die er sich durchkämpfen muss, bevor er mit seinen Schneeschuhen die Einsamkeit eines von Liften nicht erschlossenen Gipfels erreicht.

Verleger Jorge Herralde wurde ausgezeichnet

Die "Eventi letterari Monte Verità" vergeben alljährlich auch einen Preis. Diesmal erhielt ihn der Verleger Jorge Herralde aus Barcelona. Der betagte Gründer des legendären "Anagrama"-Verlags konnte wegen einer Krankheit nicht anreisen. Die Laudatio auf ihn hielt Carlo Feltrinelli vom gleichnamigen Mailänder Verlagshaus. Feltrinelli hat Anagrama vor einigen Jahren übernommen.

"Diese Kombination mit Anagrama ist für mich ein großes Abenteuer. Es hat zu tun mit Spanien und mit Lateinamerika. Wir haben eine große Tradition mit Lateinamerika. Es ist eine Avventura für uns. Ich glaube, solche Verlage sollten unabhängig bleiben. Und ich glaube, zusammen Feltrinelli und Anagrama könnten eine große Zukunft haben."

Utopien sind heute geschäftlicher Natur

Carlo Feltrinellis Vater Gianciacomo hatte den Verlag in den 50er-Jahren gegründet, als linkes Projekt, dem auch eine gehörige Portion Utopie innewohnte. Sein Sohn Carlo baut das legendäre Verlagshaus, das auch sehr viele deutsche Autoren nach Italien gebracht hat, gerade zu einem Medienunternehmen aus. Utopien, so scheint es, sind heute weniger ideologischer und ästhetischer als geschäftlicher Natur. Bei Jean-Jacques Rousseau war das noch anders. Der träumte von der Rückbesinnung auf die Kräfte der Natur.
Es ist schon dunkel auf dem "Berg der Wahrheit", als der Schauspieler Bruno Ganz aus dem Werk des französischen Denkers rezitiert. Vom Lago Maggiore strahlen ein paar Lichter herauf, vereinzelt sind im Mondlicht die schneebedeckten Kuppen der umliegenden Berge zu erkennen – Utopia della Natura, die Utopie der Natur.
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