Liebe in Zeiten der Hast

16.10.2006
Moria, eine glücklich verheiratete Frau und Mutter, verliebt sich in einen Straßenmusiker und sieht ihr bisheriges Leben nun mit ganz anderen Augen. Mira Magén skizziert mit ihrem Roman das schwierige Leben in Israel, in dem scheinbar banale Alltagsentscheidungen fatale Konsequenzen haben können.
Der Roman "Als ihre Engel schliefen" aus der Feder der israelischen Schriftstellerin Mira Magén ist ein Buch gerade passend zur aktuellen Situation in ihrem Land.

Erzählt wird die Geschichte von Moria, einer glücklich verheirateten Frau und Mutter, die irgendwann in Jerusalem einen russischen, mutmaßlich nicht-jüdischen Straßenmusikanten trifft und sich heftig in ihn verliebt. Ab nun sieht sie ihr bisheriges Leben mit völlig anderen Augen. Doch wie soll sie sich entscheiden, ist das eine zu haben, ohne das andere zu verlieren?

Vermutlich aber stellt sich erst einmal eine ganz andere Frage: Weshalb bitte soll diese Geschichte – so literarisch versiert und psychologisch einfühlsam sie auch erzählt sein mag – mit den jüngsten Ereignissen in Israel zu tun haben? Immerhin wurde das Buch im Original bereits im Jahre 2003 publiziert, ehe es jetzt – und zwar als nunmehr drittes von Mira Magén – bei dtv in der gewohnt kongenialen Übersetzung von Mirjam Pressler erschienen ist. Die Antwort klingt verblüffend einfach: Weil es in Israel immerzu "jüngste Ereignisse" gibt, welche die Bevölkerung nicht zur Ruhe kommen lassen. Man zieht sich aus besetztem Gebiet zurück und das Resultat ist Krieg; man besteigt einen Bus und geht bei einem Selbstmordattentat in die Luft; man steht – so geschehen in eben jenem Sommer 2003 - vor einer Tel Aviver Stranddiskothek Schlange und kommt ebenfalls zu Tode. Plausibel, dass vor einem solchen Hintergrund persönliche Alltagsentscheidungen sogleich existentielle Tragweite erhalten. Nicht nur der Zweifel, ob ihr Ehe- und Familienleben tatsächlich so (un)erfüllt gewesen war, nagt deshalb an der Romanheldin, sondern auch die Frage, wie viel Zeit ihr noch bleibt. Wie viel Jahre, um noch als attraktive Frau zu gelten – und wie viel Stunden, ehe sie in einen Bus steigt? Nun ist Hast niemals ein guter Ratgeber – das weiß nicht nur die herzenskluge Moria (für die schwindende Minderheit hiesiger Bibelkenner: der Name ist eine gelungene Anspielung), sondern auch ihre Schöpferin Mira Magén, die Anfang der fünfziger Jahre in einer orthodoxen Familie geboren wurde.

Das vermeintlich wild-vitale Leben, hier symbolisiert durch den Russen, könnte sich nämlich auch als Schimäre entpuppen. Erkenne, um zu wählen, heißt es im Talmud. Das israelische Alltagsleben – fragil, laut, hochkonzentriert, sexuell aufgeladen beziehungsweise für pikierte Mitteleuropäer-Seelen schlicht "nervig" - zwingt jeden Tag zu solcher Wahl. Die Alternativen heißen dabei in den wenigsten Fällen schlicht "gut" oder "böse", sondern fordern ein Erwachseinsein, welches manchmal jedoch auch reichlich überfordert wird. Von all diesen Grundierungen erzählt Mira Magéns Alltags- und Liebensroman in einer realistisch detailsatten, gleichwohl poetisch vibrierenden Sprache: Ein Gewinn für jeden Leser (und natürlich jede Leserin) und eine sanfte Provokation, das eigene Leben bewusst wahrzunehmen. Denn es gibt nur dieses eine – zumindest auf dieser Welt.

Rezensiert von Marko Martin

Mira Magén: Als ihre Engel schliefen
Roman
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
dtv, München 2006
436 Seiten, 15 Euro