Liebe im Stadion

Von Christian Gampert · 14.09.2010
In Basel zeigt Calixto Bieito die "Aida" als muslimische Muttergottes und die Ägypter als singende Hooligans – für seine Verhältnisse eine fast dezente Inszenierung. Massenszenen und psychologisches Kammerspiel sind gleichermaßen auf die Migrationsproblematik bezogen.
Erste Überraschung: Die Ägypter sind uns nah. Sie sind als Chor ein durch und durch europäisiertes Völkchen, das - zweite Überraschung - auf den Schalensitzen eines Fußballstadions Platz genommen hat und sich zeitweise, im Sinne der Fan-Verkleidung, alberne Nofretete-Masken ums Gesicht hängt, während der ägyptische Feldherr Radamès gleich eine Narrenkappe auf hat.

Mit dieser Setzung geht Calixto Bieito seine "Aida"-Inszenierung an. Das Orientalische, das Verdi in vielen chromatisch schwebenden Melodiebögen auch musikalisch eingemeindet hat, ist heute eben nicht mehr, wie der Musikwissenschaftler Eduard Hanslick 1892 argwöhnte, "wunderlich" in "Tracht und Gesittung", es ist uns seit dem 18., spätestens 19. Jahrhundert im Grunde höchst vertraut. Wir selber sind es, die sich nach Belieben bei allen möglichen Kulturen bedienen und fasziniert deren Codes und Kleider ausleihen.

Nach Napoleons Feldzügen hat Europa Ägypten vor allem wissenschaftlich ausgebeutet. Als Verdi 1871 die "Aida" schrieb, orientierte sich allerdings auch die ägyptische Oberschicht stark an Europa; Kairo bekam sogar ein Opernhaus, das freilich vor allem von Westlern besucht wurde.

Diese europäischen Ägypter beschäftigen bei Bieito unter anderem eine schwarzgewandete Spanierin (mit Fächer) als Tempeltänzerin und Todesengel (Rena Harms); einen Priester, der als Gladiator in die Arena steigt und geschminkt ist wie ein Zombie vom American Football (ein wunderschöner Bass: Daniel Golossov); weiterhin einen Transvestiten, einen Würdenträger der katholischen Kirche und, als Boten, einen neofaschistischen Wachmann mit Schäferhund (Karl-Heinz Brandt).

Und der ägyptische Chor hat ein Problem: Böse Äthiopier dringen ins Land. Deren König Amonasro (Alfred Walker) wird bei Bieito wie ein wildes Tier im Käfig vorgeführt, weil er schwarzer Hautfarbe ist – Rassismus pur. Diese Ägypter können es auch nicht ertragen, dass ihr Feldherr Rademès die äthiopische Sklavin Aida liebt. Die ist Kindermädchen und Putzhilfe und darf ihren muslimischen Schleier tragen, wird aber bald (von der eifersüchtigen Amneris) in ein europäisches Abendkleid gezwungen und mit einer Blondhaar-Perücke versehen – ergo: Sie wird zwangsassimiliert.

Natürlich kann man sich kritisch fragen, ob die Fußball-Metapher trägt, ob es ausreicht, den Kampf zweier Kulturen als Kampf der singenden Hooligans zu zeigen – da doch unterschwellig auch von unseren eigenen Ängsten vor den Immigranten erzählt werden soll und nicht nur vom Konflikt zwischen Ägypten und Äthiopien. Unsere Probleme mit der muslimischen Minderheit sind doch erheblich komplizierter als der von Verdi vertonte Nationen-Konflikt.

Aber sei’s drum: Das Stück erzählt relativ simpel und linear, und Bieito nutzt das Stadionrund, um die wütenden Fan-Massen effektvoll in Szene zu setzen. Dass dabei lockende Bauchtänzerinnen als Siegespreis für den Feldherrn ausgelobt werden und arme Dritte-Welt-Kinder an Nähmaschinen Nationalflaggen produzieren, ist bei Bieitos Aktualisierungswahn offenbar unerlässlich.

Andererseits greift er zurück auf ganz archaische Bilder: Er lässt, ganz wie im Mythos, den Priester Ramfis im Bauch eines Pferdes wühlen und nach den herausgezogenen ekelhaften Eingeweiden wahrsagen. Er arrangiert die geschundenen Leiber der besiegten Äthiopier zu blutigen Haufen, wirft den Gepeinigten Brot-Bröckchen zu und lässt sie dann wiederauferstehen und sich martialisch am Maschendrahtzaun des Fußballstadions verbeißen, wo sie, zusammen mit den rhythmisch klatschenden Ägyptern, dem Publikum drohend gegenüberstehen. Will sagen: Wir sind besiegt, aber wir kommen wieder.

Das Sinfonie-Orchester Basel unter Maurizio Barbacini lädt das Ganze mit ungeheurer Energie auf: Was bei Verdi auch als Parodie auf den militaristischen Wahn des 19. Jahrhunderts gedacht war oder zumindest eine schillernde Ambivalenz zwischen Ernst und Karikatur hatte, wird hier als musikalische Drohkulisse begriffen. Barbacini ist aber auch in der Lage, die zarten Seiten der Partitur kongenial zu bedienen: Die Arien, Duette und Terzette, die die eifersüchtige Amneris, der darstellerisch etwas blasse Rademès und die verunsicherte Aida haben, werden vom Orchester mit großer Vorsicht begleitet und in ihrer Binnen- und Verweisstruktur ausgearbeitet.

Dabei ergeben sich teilweise träumerische Klanglandschaften, in denen vor allem die Aida der wunderbaren Angeles Blancas zu einer fast sakralen Innerlichkeit findet. Dass sie dabei ihren muslimischen Schleier zeitweise zum Kopfschmuck einer typischen Marienfigur verändert, ist ein schöner Hinweis auf die Auswechselbarkeit religiöser Topoi.

Der allmächtige Gott nämlich wird von allen Beteiligten, Ägyptern wie Äthiopiern, als Schutzherr sehr imperialistischer Wünsche aufgerufen. Dass auch die geknechteten Äthiopier das Ressentiment bedienen, wagt Bieito allerdings nicht richtig auszumalen. Die zwischen die Fronten geratene Aida der Angeles Blancas aber ist vom Dirigenten wie vom Regisseur sehr dezent geführt, ihr Schmerz ist einerseits expressiv und wild, dann wieder von resignierter Zartheit.

Die völlig vergeblich im Hochzeitskleid steckende Amneris der sängerisch starken Michelle de Young dagegen ist zumindest anfangs eine Walküre und drängt den Radamès des Sergej Kholov ein wenig an den Rand; der kann darstellerisch seine Entscheidung gegen das Soldatentum und für die Menschlichkeit nicht wirklich beglaubigen. Aber auch er ist sängerisch auf der Höhe. Dass Kholov und Blancas dann im Grab ihr "Vaterland der Liebe" finden, ist für Bieitos Verhältnisse von fast kammerspielartiger Traurigkeit.

Im gesamten zweiten Teil wird die anfangs überzeugende Stadion-Bühne von Rebecca Ringst eigentlich nur noch als Sitztreppe gebraucht - schade. Bieito beklagt mit dem gewohnten Schematismus eine böse Welt, findet aber auch große Bilder mit Hooligans, verhüllten muslimischen Frauen und geknebelten nackten Kriegsgefangenen im Schaukasten.

Immigranten am Maschendraht-Zaun: Es schadet nichts, wenn ein luxurierendes Stadttheater-Publikum das Immigranten-Problem plötzlich im heimischen Stadion vorfindet. Die wahre Tröstung liegt in Verdis Musik, die die Feindesliebe plausibel macht und über manch platten Regieeinfall hinweghilft.
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