Liebe im Kampf der Kulturen

Rezensentin: Claudia Kramatschek · 25.07.2005
Nadeem Aslam zeichnet in seinem Roman das Schicksal von Menschen nach, die durch Migration zwischen die Kulturen geraten sind und verzweifelt nach Identität suchen. Gleichzeitig ist es eine Anklageschrift gegen den Islam, der Liebe predigt, in der Praxis aber Ehrenmorde gutheißt.
Sie tun, was selbstverständlich sein könnte: Sie lieben sich und leben zusammen, ohne verheiratet zu sein. Doch in der Welt, in der Chanda und Jugnu leben, ist das nicht möglich. Denn beide – sie ist 25, er 48 Jahre alt – gehören zu einer der vielen pakistanischen Gemeinden irgendwo in England. Und auch dort gelten die strengen Regeln des Islam, der besagt, dass Liebe ohne Heirat eine Schande ist. Eine Schande nicht nur für die junge Frau, sondern vor allem für ihre Familie und ihre beiden Brüder.

Eine Schande, die daher gerächt werden muss – notfalls mit dem Blut der eigenen Schwester und ihres Liebhabers. Und so scheint der Fall klar, als Chanda und Jugnu nach einer Reise, die sie nach Pakistan führte, zwar wieder in England ankommen, aber kurz darauf verschollen bleiben...

Der Roman setzt ein halbes Jahr nach dem ungeklärten Verbleib des Liebespaares ein und erzählt ihre Geschichte in einer Art Rückblende, die zwar weit bis in die Geschichte Pakistans ausholt, in ihrem Kern aber vor allem den Konflikt von Menschen beleuchtet, die – wie die pakistanischen Immigranten – fern von ihrer Heimat zwischen den Kulturen leben und verzweifelt um die eigene Identität und den eigenen Glauben ringen.

Realistisch zeichnet Aslam dabei anhand seiner Figuren und vieler einzelner Schicksale die unterschiedlichen Facetten dieses Lebens zwischen den Welten: Da ist etwa Shamas, Jugnus älterer Bruder, der Kommunist ist und vom Islam nicht viel hält; seine Frau Kaukab dagegen hält England für ein unreines Land und glaubt an Djinns, Geister und arrangierte Ehen – zum Leidwesen ihrer Tochter Maj-Jabin, die den guten Schein ihrer eigenen Ehe nur der Mutter zuliebe aufrechterhält. Die junge Suraya wiederum sucht einen Mann auf Zeit, damit sie nach der Scheidung ihren eigenen Mann wieder heiraten kann, der sie verlassen hat...

Scham, Schande, Lügen und Schweigen – dies seien die "Vorhängeschlösser" an den Mündern der dortigen Menschen, so heißt es an einer Stelle im Roman. Nadeem Aslam, 1966 in Pakistan geboren und wegen politischen Widerstands seines Vaters gegen das einstige Zia-Regime seit langem in England beheimatet, wagt damit in seinem Roman deutliche Kritik: An seiner Religion - weil sie Liebe als erstes Gebot predigt, aber die Menschen im wahren Leben durch Maßregelung unterdrückt und Gewalt im Namen der Ehre erlaubt. Und an seiner Heimat Pakistan, weil sie den Islam zur Politik missbraucht und die Menschen in Rückständigkeit fesselt.

"Atlas für verschollene Liebende" ist somit Krimi und Liebesroman sowie Sitten- und Gesellschaftsroman in einem. Zehn Jahre hat Nadeem Aslam, dessen erster Roman "Season of the rainbirds" bereits preisbedacht war, an diesem Roman geschrieben. An manchen Stellen merkt man die Mühen der Konstruktion dieses vielschichtigen Werkes. Dennoch ist es ein poetischer Atlas über die auf vielen Wegen unmöglich gemachte Liebe im Namen einer Religion, die den schlimmsten Verrat begangen hat: den Verrat an sich selbst.

Nadeem Aslam: Atlas für verschollene Liebende
Aus dem Englischen von Rosetta Stein.
Rowohlt Verlag 2005, 542 S., 22,90 Euro