Liebe der russischen Seele zur Natur

15.06.2009
Marina Rumjanzewa bringt in ihrem Buch "Auf der Datscha" die Entstehungsgeschichte der Datschen in den Zusammenhang mit der russischen Geschichte. Das Lesebuch zeigt auch, dass über fast zwei Jahrhunderte allein der Adel die Mittel besaß, sich Datschen leisten zu können.
Im Jahr 1834 berichtet der russische Dichter Alexander Puschkin (1799 -1837): "Peterburg ist leer, alle sind auf den Datschen." Da gehört es sich bereits für jeden bemittelten Hauptstädter, dass er eine Sommeradresse besitzt, unter der er vom Frühling bis in den späten Herbst hinein erreichbar ist.

Denn das Leben auf dem Land gilt als "außerordentlich gesund" und "sehr wohltuend für die Moral". Je nach Vermögen und Charakter seiner Bewohner ist der ländliche Wohnsitz eine einfache "Isba" – ein dörfliches Holzhaus –, eine Villa, ein kleines Palais oder eine mehrstöckige Residenz mit großem Garten. Was zu dieser Zeit oft scherzhaft als "Datschamania" diagnostiziert wird, hat seinen Ursprung bereits Anfang des 18. Jahrhunderts.

Als Zar Peter der Große 1703 St. Petersburg gründete, ließ er nicht nur sein prachtvolles Sommerpalais Petergof am Finnischen Meerbusen erbauen. Das darum befindliche Land verteilte er an seine Höflinge. Die Grundstücke waren genormt: 100 Saschen breit und 1000 Saschen lang (1 Saschen = 2,134 Meter) und wurden Datscha – "das Gegebene, die Gabe" - genannt. Frei von jeglichem wirtschaftlichen Nutzen, dienten sie allein dem Aufenthalt in der Natur.

Für die 1958 in Moskau geborene Journalistin und Publizistin Marina Rumjanzewa begründete die Direktive des Zaren eine Tradition mit weitreichenden Konsequenzen. Grund genug, um sie als Kulturgeschichte zu begreifen, da die vor allem in der Literatur viel gepriesene Liebe der russischen Seele zur Natur ohne die Existenz der Datscha-Bewegung undenkbar ist. So ist der kulturgeschichtlichen Abhandlung ein "Lesebuch" angefügt, das Texte von Alexander Puschkin, Fjodor Dostojewski, Anton Čechov, Lew Tolstoj und Jurij Trifonow beinhaltet, die dieses Phänomen behandeln.

In der 300 Jahre umfassenden Kulturgeschichte stellt das Jahr 1861 eine wichtige Zäsur dar. Mit der Leibeigenschaft wird die feudale Ordnung abgeschafft. Kapitalistische Unternehmer kommerzialisieren die Datscha und die einflussreiche "Intelligenzija" beherrscht bald den Wallfahrtsort. Es kommt zu einer neuen "suburbanen Form", dem Bau von Datscha-Siedlungen, in denen künftig ganze Sippen und große Datscha-Gesellschaften Erholung und Unterhaltung suchen.

Faktenreich und mit vergnüglichen Exkursen zeigt Rumjanzewa, dass literarische Klassiker wie Dostojewskis "Idiot", Gontscharows "Oblomow" und Lew Tolstojs "Anna Karenina" ohne die Datscha als symbolischen Handlungsort nicht auskommen und Boris Pasternaks "Doktor Schiwago" schließlich in der Literatur-Siedlung Peredelkino entstand. Als berühmtestes Datscha-Buch aber wird Arkadi Gaidars "Timur und sein Trupp" von 1940 bezeichnet, das sich wie eine "kleine Enzyklopädie des sowjetischen Datscha-Alltags und der Datscha-Sitten" liest. Für Rumjanzewa fasst das Idiom "Datscha-Romanze" schließlich all das, was die Flucht aufs Land seit jeher ausmacht: "faulenzen, im Gras herumliegen, einfach so in die Welt gucken, flirten, Borschtsch essen, Milch trinken und schlafen".

Besprochen von Carola Wiemers

Marina Rumjanzewa: Auf der Datscha, Eine kleine Kulturgeschichte und ein Lesebuch
Dörlemann / Zürich 2009, 288 Seiten, 21,90 Euro