Liebe als ein Stück Literatur

13.10.2011
Im letzten Teil seiner "Liebe"-Trilogie lässt Hanns-Josef Ortheil einen Schriftsteller und eine Performancekünstlerin in einem bayrischen Hotel aufeinandertreffen. Kein lautstarkes Liebesdrama, sondern ein schönes Manifest der Slow-Love-Bewegung.
Manchmal tut es gut, keine Mehr-Generationen-Familien-Saga in Händen zu halten, und nicht immer wartet man darauf, in deutsch-deutsche, stasidurchtränkte Romanhandlungen involviert zu werden. Hanns-Josef Ortheil hat damit nichts im Sinn, zumindest nicht in seinem neuen Roman "Liebesnähe", der den Abschluss einer Trilogie zum Thema "Liebe" bildet.

2003 hatte Ortheil seinen hoch erfolgreichen Roman "Die große Liebe" vorgelegt, der davon berichtete, wie sich zwei Menschen, ein Münchner Journalist und eine italienische Meeresbiologin, Knall auf Fall ineinander verliebten und alle Hindernisse ihres Glücks beiseiteschoben. "Das Verlangen nach Liebe" (2007) setzte dieses – im Literaturbetrieb im Grunde nicht satisfaktionsfähige – Experiment fort und zeigte ein Paar, einen Pianist und eine Kunstprofessorin, das in Zürichs Altstadtgassen problemlos zu seiner Liebe zurückfindet.

"Liebesnähe" treibt diese Anstrengung, die "Sprache der Liebe" zu verbildlichen, auf die Spitze. Der Schriftsteller Johannes Kirchner und die Performancekünstlerin Jule Danner kommen einander in einem noblen oberbayerischen Schlosshotel (das manche Leser mühelos als das bei Mittenwald gelegene Schloss Elmau identifizieren werden) näher. Ohne dass sie es ahnen, wurden sie von einer gemeinsamen Freundin, der Hotelbuchhändlerin Katharina, zusammengebracht, und binnen weniger Tage greifen ihre Lebenswege ineinander und ihre Liebessehnsüchte werden erfüllt. Der Clou besteht darin, dass sich beide wortlos näherkommen, sich nicht in "trivialen Wortwechseln" ergehen. Man tauscht kleine Zettel aus, interpretiert Gesten und weiß intuitiv, welche Wanderroute der andere einschlagen und welche Mahlzeit die andere einnehmen wird.

Alle drei Figuren haben Schicksalsschläge – den Tod des Vaters, den Tod des Geliebten, den Tod der Mutter – zu verdauen, und auf dieser porösen Grundlage wächst das Bedürfnis umso stärker, sein Leben im Rückblick gleichsam zu archivieren und sich für die "Zeitlosigkeit" der Liebe zu öffnen. Wie auf vorbestimmten Bahnen bewegen sich Johannes und Jule, als ginge es darum, den idealen Bildungsweg, den Adalbert Stifter im "Nachsommer" ausbreitete, noch einmal nachzuempfinden.

Begleitet von musikalischen und literarischen Reminiszenzen (darunter vor allem das "Kopfkissenbuch" der japanischen Hofdame Sei Shonagon) und angereichert, wie immer bei Ortheil, von kulinarischen Köstlichkeiten (Steinpilze!), werden wir Teil einer Slow-Love-Bewegung, die darauf hinausläuft, die Liebe selbst als Stück Literatur zu deuten.

Keine Frage, Hanns-Josef Ortheil wird für dieses Traumstück Hohn von denen ernten, die in modernen Liebesromanen lautstarke Dramen und gefährlichen Zündstoff erwarten. Wer indes sieht, welch ganz andere ästhetische Konzeption "Liebesnähe" verfolgt, kommt kaum umhin, diese langsam voranschreitende Prosa einer selbstverständlichen Liebeserfüllung zu bestaunen. Ob sich diese Intensität auch in München, wohin Johannes und Jule am Ende zurückkehren, erhalten lässt, bleibt offen. Der Roman endet rechtzeitig.

Besprochen von Rainer Moritz

Hanns-Josef Ortheil: Liebesnähe
Luchterhand Verlag, München 2011
394 Seiten, 21,99 Euro

Links bei dradio.de
Aus der Perspektive eines Kinde
Ausbruch aus der Stille
Hanns-Josef Ortheil gibt Einblicke in die Branche
Mehr zum Thema