Leute, habt ein Herz!

Janne Teller im Gespräch mit Frank Meyer · 14.06.2013
Wer es nicht schafft, sich in das Leben von Flüchtlingen hineinzuversetzen, der verliert seine eigene Menschlichkeit, sagt die Autorin Janne Teller. Ihr Buch "Krieg - Stell dir vor, er wäre hier" fand sich plötzlich in Berliner Briefkästen.
Frank Meyer: Kann ein Buch etwas bewegen im Konflikt zwischen Asylsuchenden und Anwohnern? Im Berliner Stadtviertel Westend wehren sich Anwohner gegen Kriegsflüchtlinge als Nachbarn. In einer alten Kaserne wurde dort eine Notunterkunft für Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Afghanistan eingerichtet. Die Anwohner haben mehr als 350 Protestunterschriften gegen die Flüchtlinge in Ihrer Nachbarschaft gesammelt. Um die Anwohner umzustimmen, haben Aktivisten ihnen ein Buch in den Briefkasten gesteckt: das Buch "Krieg – Stell dir vor, er wäre hier" von der dänischen Autorin Janne Teller. Mit ihr werden wir gleich über diese Aktion reden, vorher hören Sie eine Reportage von Jakob Rüger. Er war am Mittwoch bei einer Versammlung, bei der die Unterstützer der Flüchtlinge und die protestierenden Anwohner aufeinandertrafen:

Beitrag

Der Informationsabend im Berliner Westend zum Konflikt zwischen Anwohnern und einer Notunterkunft für Kriegsflüchtlinge. 90 dieser Anwohner hatten eine ungewöhnliche Post im Briefkasten, das Buch "Krieg – stell dir vor, er wäre hier" von Janne Teller. Und diese Autorin ist jetzt in New York für uns am Telefon. Also guten Tag nach New York, Frau Teller!

Janne Teller: Ja, guten Tag!

Meyer: Janne Teller, was haben Sie denn gedacht, als Sie davon gehört haben, dass Ihr Buch für diese Aktion genutzt wird, also den Leuten in der Berliner Soorstraße in den Briefkasten geworfen wird?

Teller: Ich hatte zwei Reaktionen, weil eigentlich ist es schade, dass es eben nötig ist, Versuche, mehr Empathie zu verbreiten. Aber trotzdem bin ich auch sehr froh, es hat mich wirklich tief berührt, dass dieses Buch, das ist von meinem eigenen Herz geschrieben, dass das in so einer Aktion benutzt werden kann. Das hat mich wirklich tief im Herz berührt.

Meyer: Wir müssen ja erst mal erklären, was das für ein Buch ist, Ihr Buch "Krieg – stell dir vor, er wäre hier". Sie sagen, Sie haben das Buch aus Ihrem Herzen heraus geschrieben. Was hat Sie denn da bewegt, was hat Sie dazu gebracht, dieses Buch zu schreiben?

Teller: Ja, die erste Version habe ich im Jahr 2001 geschrieben. Und das war in Dänemark, als die Debatte über Flüchtlinge und Einwanderer zu Hass geworden ist, und ich wollte gerne etwas damals schreiben, das das Schicksal der Flüchtlinge lebendig für die Dänen machen konnte.

Und normalerweise, wenn man über Flüchtlinge liest, ist es immer die andere, es ist die Irakerin oder die Palästinenserin, die kommen zu uns. Aber ich habe gedacht, man erlebt das nur, wenn man glaubt, dass man selber dieses Schicksal durchleben muss. Und das kann Literatur machen.

Und dann habe ich eine Fiktion gemacht, der Krieg in Dänemark zwischen den nordischen Ländern, und eine dänische Familie muss nach Ägypten fliehen. Und das ist auch, ich bin selber von einer einwandernden Familie aus Österreich als Kriegskind nach Dänemark gekommen mit dem Roten Kreuz. Und damals hatten die Dänen 3000 Kindern aus Österreich genommen – es war nach dem Zweiten Weltkrieg –, um Essen zu kriegen und Sicherheit zu kriegen. Und das war so eine Generösität, und ich bin ganz sicher, das würde man heute nicht in Dänemark erleben. Ich möchte gern, dass die Leute, die dieses Schicksal nicht haben, die in ganz großer Sicherheit und Geborgenheit leben, dass die sich in das Flüchtlingsleben einleben können.

Meyer: Und wenn ich das richtig verstehe, Janne Teller, dann haben Sie für jede Ausgabe in jeder Sprache diese Situation noch einmal auf das Land angepasst, also für Deutschland zum Beispiel ist es eine deutsche Familie, die vor einem Bürgerkrieg in Deutschland nach Ägypten fliehen muss – und so haben Sie das für jedes Land passend gemacht, in dem Ihr Buch erschienen ist?

Teller: Ja, das finde ich nötig, weil gerade dieses Einleben in das Schicksal der Personen so wichtig ist. Und die französische Ausgabe ist eine französische Familie – für jedes Land ein neues Schicksal, es muss immer glaubbar sein, man muss sich vorstellen, das ist man selber, der Leser, der dieses erlebt. Und dafür muss ich für jedes Land eine neue Version schreiben.

Meyer: Jetzt sollen ja die Leute in der Berliner Soorstraße durch Ihr Buch zu mehr Mitgefühl mit den Flüchtlingen bewegt werden. Haben Sie das schon erlebt, dass Ihr Buch diese Wirkung tatsächlich hatte?

Teller: Ja, ich habe von ganz vielen Lesern die Reaktion gehört: Ah, jetzt verstehe ich viel besser, was es ist, die Kontrolle seines eigenen Lebens zu verlieren und eine neue Identität machen zu müssen. Und auch von Flüchtlingen höre ich sehr oft, dass endlich können sie den Leuten in dem Land, wo sie wohnen, erklären, wie es ist, ein Flüchtling zu sein.

Meyer: In Berlin geht es jetzt um diese Soorstraße, die ich selbst auch nicht kenne. nach einem Bericht der Berliner Zeitung "Tagesspiegel" soll das so eine ganz idyllische Gegend sein mit Reihenhäusern, Mehrfamilienhäusern. Und mittendrin gibt es eine ehemalige Kaserne, wo jetzt 250 Asylsuchende einziehen sollen. Das sind viele Menschen für so eine eher kleinteilige Gegend – viele Menschen, die das Leben dort sicher sehr verändern werden in diesem Viertel. Sagen Sie nun, man muss das einfach aushalten, so eine Veränderung in der Nachbarschaft?

Teller: Ich glaube, Aushalten ist nicht das richtige Wort. Man muss besser mit offenen Armen, aber natürlich auch mit realistischen Gedanken dazu gehen und sagen, man verliert seine eigene Menschlichkeit, wenn man andere Leute nicht mit Menschlichkeit behandelt. Und deswegen muss man erstens Leute sehen als Menschen, wie das Flüchtlinge sind, und woher sie kommen.

Diese sind, glaube ich, meistens Familien, sie kommen von vielleicht Afghanistan, Syrien und so weiter, aber sie sind Leute, wie die Deutschen, wie die Dänen, wie alle anderen, sie möchten gerne in Ruhe und Sicherheit leben, und ich bin ganz sicher, man kann miteinander etwas machen, sodass alles ein Vorteil wird.

Meyer: Auf der anderen Seite, Sie haben eben schon in vielen Ländern gelebt und gearbeitet, auch mit diesem Thema Flüchtlinge zu tun gehabt, solche Ablehnung Flüchtlingen gegenüber, die gibt es doch wahrscheinlich in allen Ländern der Welt, oder ist das ein spezifisch deutsches Problem, dänisches Problem, wo Sie sich ja auch gut auskennen?

Teller: Nein, das gibt es in ganz Europa heute. Das ist eigentlich schade, und unglücklicherweise, mein eigenes Dänemark war hier ein Vorgängerland. Ich glaube, dass Rechtsextremismus und Hass gegen Flüchtlinge kam sehr früh in Dänemark, aber das alles ist auch deswegen, weil diese Globalisierung macht das Leben ein bisschen unsicher, und dann ist es mehr einfach, sich auf die Flüchtlinge zu konzentrieren und zu sagen, diese Leute machen unser Leben unsicher. Aber aus Unsicherheit kommt nichts von den Flüchtlingen, das sind große systemische Änderungen in der Welt.

Meyer: Anwohner der Berliner Soorstraße protestieren gegen ein Heim für Kriegsflüchtlinge in Ihrer Nachbarschaft, und diese Anwohner haben ein Buch von Janne Teller in ihren Briefkästen gefunden, das Buch "Krieg – stell dir vor, er wäre hier". Janne Teller, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Teller: Ja, danke Ihnen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.