Leuchtende Farben und fragile Zartheit

Von Jochen Stöckmann · 09.10.2008
Der belgische Maler Luc Tuymans hat vergangenes Jahr die Stiftungsprofessur an der Frankfurter Städelschule angetreten und beendet sie mit einer eigens für das Städel Museum entwickelten Ausstellung. Das Prinzip der Tuymans’schen Hängung: einerseits ein lautes Getöse leuchtender Farben, andererseits fragile, zart angedeutete Strukturen.
Mit seinem Zirkel über die Landkarte gebeugt steht Vermeers "Geograph" im hellen, fast übernatürlichen Licht seiner Studierstube. Rechts neben diesem großartigen Gemälde des 17. Jahrhunderts präsentiert das Frankfurter Städel eine Art geografischer Skizze des ausgehenden 20. Jahrhunderts: das "Kaviarbild" von Georg Herold. Klebstoff, mit dem der Künstler die delikaten Fischrogen 1990 wie Anlaufpunkte für eine Routenplanung auf der Leinwand fixierte, ist längst ausgebleicht und zerbröselt.

Nur noch einige Krümel wuchern wie Würmer neben hingekritzelten Zahlen über das Bild. Auf diesen unvermittelten Zusammenprall der Stile und Epochen schaut von links eine Frau, die Augen weit aufgerissen, die Arme stoisch verschränkt. Grau in grau ist dieses Porträt ausgeführt, so, als seien dem Bild alle Farben, alle Spuren der Jetztzeit entzogen worden.

Da wird wohl Luc Tuymans am Werk gewesen sein, jener belgische Künstler, der diese Auswahl aus den Depotbeständen zum Abschluss seiner Gastprofessur am Städel arrangiert hat:

Eva Mongi-Vollmer: "Dieses mulmige Gefühl, das häufig gerade von den Bildnissen, aber nicht nur Bildnissen, sondern überhaupt von der Malerei von Luc Tuymans ausgeht, diese Beunruhigung, die einen ergreift: Je länger man guckt, umso mehr. Das strahlt tatsächlich auch das Bildnis von Ottilie Roederstein aus. Und das war eines der Bilder, wo er mit einem Blick gesagt hat: 'Das kommt in die Ausstellung!'"

Mehrmals schon hat Eva Mongi-Vollmer, Kuratorin am Städel, den Irrtum der Besucher aufklären müssen: Nicht Tuymans, sondern die Deutsch-Schweizerin Ottilie Roederstein hat das Porträt gemalt, es ist nicht von heute, sondern aus dem fernen Jahr 1926. Und das Bild markiert auch keine gesicherten Positionen, hängt da nicht als Platzhalter für berühmte Namen, einflussreiche Stilrichtungen. So einfach hat es sich Tuymans bei seiner Sichtung der Museumsbestände nicht gemacht:

Eva Mongi-Vollmer: ""Er geht still und stumm an Werken vorbei, wo andere Menschen um die halbe Welt reisen, um die bei uns im Haus zu sehen, um dort ihren Gottesdienst abzuhalten, weil die kunsthistorisch so hoch hängen."

Anstelle dieser Highlights rückt Tuymans nun Arbeiten wie den "Herbstabend am Lehasee" von Schmitt-Rottluff in den Mittelpunkt, ein Ölbild, 1951 gemalt, das seither im Depot ruhte. Das aber nun in seiner Zwiespältigkeit das untergründige Prinzip der Tuymans’schen Hängung ans Licht bringt: Einerseits ein lautes Getöse leuchtender Farben, andererseits die höchst fragile, zart angedeutete Struktur eines flüchtigen Zeltbaus am Seeufer.

Nach eben diesem verstörenden Grundmuster knüpft der Künstlerkurator ein verwirrendes Gespinst gegenläufiger Blickverbindungen, vielfach gebrochener Assoziationsketten - mitten in der Herzkammer des Städel-Museums:

Eva Mongi-Vollmer: "Ein Zentralbau hat normalerweise eine leere Mitte, in der Sie als Betrachter stehen können und von dort aus den Blick in alle Richtungen schweifen lassen können - und genau dieses Gefühl des Schweifenlassens hat Luc Tuymans verbaut, indem er in den Kuppelsaal, in dieses Oktogon ein inneres Oktogon gebaut hat. Und dadurch hat er einen Gang geschaffen, den man abzulaufen und abzugucken hat."

Es ist also im Wortsinne ein "Umgang" mit Bildern, den Tuymans als Kurator vor Augen hatte. Aber ohne jeden Zwang: Zwar hat er jedem der 18 Bilder kurze Texte beigegeben, doch als "betreutes Sehen" möchte er das nicht verstanden wissen:

Luc Tuymans: "Kein ideologisches Ziel, keine Botschaft, nein. Es ist nur so: Ich erkläre schon die Bilder, um die Ausstellung vollständig zu machen. Aber das bedeutet nicht, dass das zwangsgemäß durchgesetzt werden sollte auf den Zuschauer. Der kann das einfach nur schön finden oder was immer. Man soll den Zuschauer auch nicht allzu sehr didaktisch vereinnahmen oder unterschätzen zum Beispiel."

Fast schon plakativ weist das hochherrschaftliche Konterfei eines von oben auf den Betrachter herabschauenden Kardinals von Velasquez auf das Zentralmotiv der Auswahl hin: Es geht um Porträts. Aber natürlich nicht im schlichten Sinne, denn sonst wäre Courbets Bild einer leeren Dorfstraße ebenso fehl am Platze wie Marie Paquet-Steinhausens Stilleben mit einem seltsam aus der Mitte gerücktem Strauß Feldblumen: ganz gewöhnlich, aber von erlesener Farbigkeit. Damit, so Eva Mongi-Vollmer, demonstriert Tuymans:

"Dass eben auch in den anderen Gattungen die Spiegelung des Individuums eine ganz starke Rolle spielt. Das kann eben bei Courbet sein in einer verschneiten Dorfstraße und das kann bei Paquet-Steinhausen sein in Form eines Blumenstraußes. Das ist die Auseinandersetzung mit dem Individuum in seiner Zeit, und die Frage: Wo steht dieses Individuum in der Hierarchie seiner Zeit?"

Mit Blinky Palermos "fabric painting", Farbfeldern auf einer mannshohen Stoffbahn, treibt Tuymans diese fast schon soziologische, anregend detailverliebte Analyse auf die Spitze. Und fügt als eigenen Beitrag seine "eyes" hinzu, ein Triptychon aus drei Augäpfeln, die ganz ohne Symbolik auf dieses wichtigste Sensorium für den Menschen des 21. Jahrhunderts hinweisen. Die Begründung für diese Wahl liefert der filmvernarrte Maler mit seiner eigenen Biographie:

Luc Tuymans: "Ich bin ja groß geworden mit dem Fernsehen, das bedeutet: einen Mangel an Erfahrung, eine Vielfalt an Bildern."

Genau daran hat Tuymans sich virtuos abgearbeitet, ohne Rücksicht auf festgefügte Kategorien der Kunstgeschichte. So war es nur konsequent, dass er mit dem zweiten eigenen Bild in der Galerie des Städel, mitten in der gewohnten Hängung der ständigen Sammlung intervenierte:

Eva Mongi-Vollmer: "Da tummelt er sich jetzt mit einem Werk aus dem Jahr 2008 in einem Raum, in dem sonst Bilder hängen, die zwischen 1880 und 1900 entstanden sind, von denen die meisten in opulenten goldenen Rahmen hängen. Da hängt jetzt sein 'Against the day'-Bild."

Und das ist Tuymans Antwort, mehr noch: eine grundlegende Reflektion des "Jagdaufsehers" von seinem Landsmann Fernand Khnopff: Eine seltsame Figur - für einen Jäger zu statisch, für einen Aufseher viel zu fein gewandet - steht da 1893 auf unsicherem Grund, wie auf Treibsand, neben einem mächtigen Baumstamm, der die Komposition nachhaltig stört, aus dem Gleichgewicht bringt.

Tuymans nun - daraus macht er kein Geheimnis - ging in den eigenen Garten, malte dort einen Mann, der etwas ein- oder ausgräbt. Oder langsam im sumpfigen Grund versinkt, vor hohen Mauern, die an einen Hochsicherheitstrakt erinnern. Damit rührt der Maler an die Überlebensfrage - nicht nur der Kunst: Wie werden wir uns behaupten in den Bildräumen der Erinnerung, der Welt der Zukunft?