Letzter Koitus, letzter Tanz

Lyriker bedichten ausgestorbene Tierarten

Ein Dodo in einer Zeichnung
Der Dodo in einer Darstellung des 19. Jahrhunderts. Wahrscheinlich um 1690 starb das letzte Exemplar. © imago stock&people
Von Astrid Mayerle · 23.08.2019
Wie mag sich das anfühlen, als letzter Vertreter der eigenen Art auf den Tod zu warten? Das Artensterben beschäftigt seit den 1960er-Jahren auch Lyrikerinnen und Lyriker. Ihre Verse werden zu poetischen Mahnmalen verschwundener Tierarten.
Die Relikte ausgestorbener Tierarten konservieren oft gleichermaßen Schönheit und Drama - so wie das in Kalkstein eingebettete Skelett des Archäopteryx im Deutschen Naturkundemuseum Berlin. Ikarus-ähnlich, scheinbar wie im Flug, wurde der Urvogel in den Stein eingeschrieben.
Ein versteinerter Urzeitvogel
Ein fossiler Achäopteryx. Hier das Exemplar aus dem Museum-Solnhofen© imago / imagebroker / Siepmann
Die Lyrik zeitgenössischer Autoren und Autorinnen - darunter Sabine Scho, Silke Scheuermann und Mikael Vogel - verdichtet den Gegensatz von Einzigartigkeit und Gattungstod noch einmal mehr.
Manche dieser Gedichte erscheinen wie Kurzbiografien einer verschwundenen Tierart, andere wirken wie Epitaphe oder Requien. Die meisten von ihnen lassen sich auch als Mahnrufe lesen, die sich nicht nur an Naturschützer, Umweltexperten und Biodiversitätsforscher richten.
Die zeitgenössische Lyrik über ausgestorbene oder zumindest selten gewordene Tierarten ist Teil einer langen Bewusstseinsgeschichte. Um diese zu erzählen, werden Lyrik und Erkenntnisse von Artenforschern und Naturwissenschaftlern zusammengeführt.

Auszug aus dem Manuskript:

Der Ruf des Huia ist niemals aufgezeichnet worden. Heute ist der Vogel, der in Neuseeland lebte, ausgestorben. Als der Verlust des Huia den Leuten bewusst wurde, hat ein Radiosender in Neuseeland einen alten Maori, der sich aus seiner Jugend noch an verschiedene Rufe des Huia erinnern konnte, ins Studio geholt. Er ist dafür angereist und hat in diesem Studio verschiedene Rufe des Huia - männlicher Huia und weiblicher Huia - imitiert.
Jener Maori, der das Zwitschern des Tierpärchens imitierte, war auch Mitglied einer Expedition gewesen, die 1909 vergeblich nach einem noch lebenden Tier gesucht hatte. Den Berliner Lyriker Mikael Vogel hat der imitierte Balzruf, - 1949 von Radio New Zealand aufgezeichnet -, zu einem Gedicht über die Gründe für das Aussterben aber auch über die Besonderheit der Huias inspiriert.

"(...) Dann kamen Europäer, wild auf
Seinen ausgestopften Körper für Sammlungen, Museen, den
Bei beiden Geschlechtern einer Art am unterschiedlichsten geformten Schnabel
Für Broschen:
Der männliche drängend, stämmig, fast gerade
Der weibliche delikat zum langen anmutsvollen Bogen geformt
Mit diesen jagten die Paare in Ergänzung: der Kavalier hämmernd, Borken öffnend
Seine Dame Larven, Käfer darunter hervorziehend (…)."
Mikael Vogel hat mehr als einhundert bereits ausgestorbene sowie einige aussterbende Tierarten bedichtet. "Dodos auf der Flucht" – Untertitel: "Requiem für ein verlorenes Bestiarium" - hat er diese Sammlung von Gedichten genannt. Auch der Huia taucht hier auf. Seine Besonderheit war es, dass das Weibchen mit einem ungleich längeren Schnabel als das Männchen prunkte.
Die Maoris auf Neuseeland konnten deswegen den Ruf der Huia-Weibchen und -Männchen so gut imitieren, weil sie ihn auch dann nachahmten, wenn sie die Vögel jagten.
Was bleibt von verschwundenen Tieren? Das fragen sich einige Lyrikerinnen und Lyriker, die heute nature poetry schreiben. Von vielen ausgestorbenen Arten gibt es nicht einmal Aufzeichnungen ihrer Stimmen, keine verlässlichen Bilder, geschweige denn Präparate von einst lebenden Tieren. Nicht genug: Jährlich sterben mindestens 15.000 Arten aus, die noch nicht einmal entdeckt, erst recht nicht klassifiziert sind.
Wir kennen also nicht einmal ihre Namen, nur ihre einstigen Lebensräume, vorwiegend tropische Regenwälder.
Sogar von sehr bekannten verschwundenen Arten wie dem Dodo, einem ehemals flugunfähigen Vogel, ist kein einziges vollständig konserviertes Tier erhalten. In den verschiedensten Naturkundemuseen findet man weltweit nur Teile - Knochen, Federn, Klauen und einen Kopf im Oxford University Museum.
Mikael Vogel hat diesem Phänomen ein Gedicht gewidmet und liest es im Museum für Naturkunde Berlin vor einem rekonstruierten Dodo:
"Der Oxford Dodo-Kopf, mit dem
Rechten Fuß inzwischen ins University Museum of Zoology überstellt
Wurde in den 1840ern seziert, der Schädel freige-
Legt, der Länge nach entzweigeschnitten, von der einen Hälfte die Gesichtshaut abgezogen und als Todesmaske ausgebreitet.
Im Oxford University Museum of Natural History starren
Beide Kopfhälften einander in einem Pappkarton an (…)"
Im Museum für Naturkunde Berlin steht zwar ein ganzes Tier. Aber an dieser Dodo-Rekonstruktion ist nichts Dodo.
Kein Teil stammt von einer wirklichen Dronte, wie der Vogel auch genannt wird. Als Basis für die Rekonstruktion aus dem Jahr 1949 dienten dem Präparator Knochen unterschiedlicher Dodos aus verschiedenen Museen.
Im Senckenberg Museum Frankfurt entsteht gerade eine Rekonstruktion, die dem ursprünglichen Vogel ähnlicher sein wird. Diese Dronte soll neue Proportionen bekommen: weniger dick wird sie sein und etwas langbeiniger.
Sehr wahrscheinlich war der Dodo, der auf Mauritius keine natürlichen Feinde hatte, bereits Ende des 17. Jahrhunderts ausgestorben - Seefahrer hatten zu viele Ratten und Hunde importiert. In der Folgezeit verschwand er auch aus dem kollektiven Gedächtnis.
Vermutlich war es Lewis Caroll, der den Dodo wieder in Erinnerung rief. Als der Autor 1862 begann, an "Alice in Wonderland" zu schreiben, schenkte er bereits in seiner ersten handschriftlichen Fassung der Dronte einen ziemlich kuriosen Auftritt: Sie ruft ein Wettrennen zwischen den Tieren aus, das völlig chaotisch verläuft.
***
Daniela Schwarz erzählt vor einer Vitrine, in der das Licht langsam pulsierend etwas heller und anschließend wieder etwas gedimmter wird. Sie beschreibt den versteinerten Archäopteryx des Museums für Naturkunde Berlin, eines der am besten erhaltenen Exemplare überhaupt:
"Der Urvogel Archäopteryx zeigt uns hier eine sehr schön erhaltene Wirbelsäule mit einem fast vollständigen Schädel, der Zähne besitzt. Dann sieht man, dass die Vorderextremitäten zu Flügeln geformt sind und die Beine sind auch vorhanden mit den Krallen. Man sieht außerdem noch Federabdrücke hier. Das ist was ganz Besonderes, das haben wir bei den meisten Fossilien nicht. Hier beim Archäopteryx sind die als Abdrücke im Gestein erhalten und zeigen uns die Körperumrisse, insbesondere die Flügel und den gefiederten langen Schwanz."
Gedicht von Sabine Scho:
"archäopteryx
berliner exemplar
übers ohr gehauen für ein
platt gemachtes hühnchen
ein kuhhandel
hört sich bescheiden an
am übergang von erdgeprägten
geschöpfen zu luftdurchstoßenden
tölpeln, vom krallengang zur sturz-
bereiten klaue, bei gellendem
geschrei, spähend, ready for take off
von schuppe zu federkleid, das vielleicht
indes nur schmückte, wärmte, zum fliegen
nichts nützte, und doch, einmal nijinsky sein
und faunisch verrenkt diesen einen augenblick
gleichgewichtsverloren platte machen"
Wie einen Balletttanz, ähnlich einer eleganten Bewegung des russischen Balletttänzers Vazlav Nijinsky, so beschreibt die Lyrikerin Sabine Scho den Todesmoment des Tiers. Tatsächlich offenbart die Haltung des versteinerten Archäopteryx in Berlin eine ungemeine Eleganz und Schönheit.
Was die Flugkünste des Archäopteryx betrifft, teilt sich die Wissenschaft in zwei Lager. Ein Teil der Experten ist überzeugt, dass der Archäopteryx ziemlich gut fliegen konnte, der andere zweifelt dies an.
Daniela Schwarz: "Im Moment ist die neueste Erkenntnis, dass er wahrscheinlich ähnlich wie ein Fasan vom Boden aufflattern konnte, wenn er erschreckt wurde oder schnell ins Geäst flattern konnte aber nicht über weite Strecken geflogen ist. Was ganz schön ist, dass das Gedicht das wieder aufgreift, sich mit diesen Hypothesen wieder auseinandersetzt, dass nicht alles klar ist und nicht gesichert ist. Und da treffen wir uns auch wieder, denn auch diese naturwissenschaftlichen Sachen sind Hypothesen, die sich immer weiter ändern, in zehn Jahren kann man wieder ganz neue Sachen herausgefunden haben."
Im Gegensatz zu den Urzeiten des Archäopteryx, also vor 150 Millionen Jahren, als für aussterbende Tiere immer die Natur das letzte Habitat war, sind es für manche Tiere heute die Zoos. 1958 eröffnete der Naturforscher Gerald Durell auf der britischen Kanalinsel Jersey den nach ihm benannten Durell Wildlife Park, der einzig und allein vom Aussterben bedrohte Tierarten beheimatete. In diesem, heute Jersey Zoo genannten Gehege, sind derzeit 130 Arten untergebracht, die alle auf den beiden höchsten Gefährdungsstufen der roten Liste aussterbender Arten stehen.
Mikael Vogel hat mehreren Tieren, deren letztes Habitat der Zoo war, ein Gedicht gewidmet, darunter der Wandertaube, dem Carolinasittich und dem Beutelwolf.
Der letzte Beutelwolf starb in der Nacht des 7. September 1936 in einem Zookäfig in Hobart. Die Regierung hatte ihn 59 Tage zuvor zur geschützten Art erklärt. Eine Nachzucht war in den Zoos ein einziges Mal gelungen.
Heute existieren in Zoos weltweit etwa 34 Tierarten, die in der freien Wildbahn bereits ausgestorben sind. Es ist bekannt, dass Tiere in Gefangenschaft fortpflanzungsunwillig werden.
150.000 Dollar hatte die Vereinigung der Amerikanischen Ornithologen, die American Ornothologist Union, demjenigen geboten, der ein lustvoll-paarungswilliges Männchen für die letzte Wandertaube im Zoo von Cincinnati fände. Vergebens. 1914 wurde die 19-jährige Martha tot aufgefunden. Übrigens im gleichen Käfig, in dem vier Jahre später der letzte Carolinasittich starb.
Wissenschaftler forschen noch immer daran, woran es liegen mag, dass Tiere in Zoos paarungsunwillig werden. Mögliche Gründe: Trotz bester Bemühungen und fortschrittlichster Gehegeausstattungen gelingt es kaum, den natürlichen Lebensraum adäquat nachzubilden. Ein Tier bemerkt eben, wenn es sich in Gefangenschaft befindet. Diesem Phänomen hat bereits Rainer Maria Rilke mit einem bekannt gewordenen Gedicht nachgespürt - Titel: "Der Panther. Im Jardin des Plantes, Paris" -, wo er den müden Blick des eigentlich kraftvollen Tiers beschreibt.
Marten Winter, Wissenschaftler am Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung Leipzig, erkennt aber noch einen weiteren wichtigen Einfluss, warum Tiere im Zoo ihre Paarungswilligkeit verlieren:
"Innerartliche Interaktionen, also mit anderen Artgenossen sind ein ganz wichtiger Faktor für hormonelle Ausprägungen. Und das kann ein Grund sein, warum manche Tierarten, wo es nur zwei gibt, und die sollen sich dann paaren, dass dann die Tiere nicht in die richtige Stimmung kommen oder dass dann auch die Hormone nicht in der richtigen Art und Weise funktionieren. Weil einfach die Interaktionen nicht in der Art gegeben sind, wie sie in der freien Wildbahn waren."
So eine arrangierte Zooehe scheinen Tiere nicht besonders gern zu mögen.
Einiges spricht dafür, dass ihr Paarungsverhalten dem unsrigen ähnelt und sie sich ihren Partner ebenfalls gerne selbst wählen möchten.
Martin Winter: "Es gibt natürlich auch Erfolgsnachrichten von Arten, die ausgestorben waren in der Wildnis, wo man die in Zoos gehalten hat und die jetzt schon wieder erfolgreich ausgesiedelt wurden und die plus minus stabil in der Wildnis sind. Wie der Kalifornische Condor, das Paradebeispiel. Oder das Przewalski-Pferd, was ich selbst auch schon in der Wildnis gesehen habe, in der Mongolei."
Viele Zoos engagieren sich über das so genannte Europäische Erhaltungszuchtprogramm, kurz EEP, für den Artenschutz. Allerdings muss man als Tier schon ein Popstar unter seinesgleichen sein, um in das Buch des EEP aufgenommen zu werden und damit für schützenswert zu gelten.
***
In der Lyrik taucht das Thema Artensterben erstmals zu Beginn der 1960er Jahre auf. Vorausgegangen waren alarmierende, von Menschen verantwortete Umweltkatastrophen, wie Ölpest oder Vogelsterben durch Schädlingsbekämpfungsmittel. Frühe Protest- und Naturschutzbewegegungen formierten sich.
Hans Magnus Enzensberger war einer der ersten Lyriker, die sich mit dem Tiersterben auseinandersetzten. 1960 erschien sein Gedicht "Das Ende der Eulen":
"ich spreche von euerm nicht,
ich spreche vom ende der eulen.
ich spreche von butt und wal
in ihrem dunklen haus,
dem siebenfältigen meer,
von den gletschern,
sie werden kalben zu früh,
rab und taube, gefiederten zeugen,
von allem was lebt in lüften
und wäldern (…)"
Hans Magnus Enzensberger hat eine lyrische Arche Noah gebaut. Repräsentativ für jede übergeordnete Gattung wählt er ein Tier.
Ende der 70er Jahre veröffentlichte Günter Herburger, Sohn eines Tierarztes und Enkel eines Reitpeitschen_Fabrikanten, sein düster-metaphernschwangeres Requiem "Gesang der Wale":
"(...) Dann aber hebt ein Schlürfen und Geigen
durch die Weltmeere an, herzergreifende Musik.
Es antworten einander die Wale
über tausende Kilometer hinweg,
und nur wir mit unseren eisernen Schiffen
können die Signale unterbrechen (...)"
Ganz anders klingt Sabine Schos Gedicht über einen gestrandeten Pottwal, fragender, forschender, eher wie eine individuelle Nahaufnahme:
"(...) wenn das walkalb an land
allein deshalb verloren ist
weil es niemand mehr hört
selbst das click verstärkende
meer, fortgezogen, seinen
größten spross nicht vermisst
wenn zahnwale mit dem kiefer
knirschen, im schlaf, im sand
im traum ozeanlos geweckt
vom eigenen gewicht (...)"
Heute schreiben Lyriker über das Thema Artensterben und Artenschutz anders als ihre Kollegen in den 60er- und 70er-Jahren: Sie wählen zum Teil einen fast sachlichen, der naturwissenschaftlichen Sprache recht nahen Ton. Sie verleiben ihren Texten latinisierte Gattungsnamen ein, Fachbegriffe der Biologie oder Hochrechnungen in Prozentangaben.
Sicher wirkt hier die Naturwissenschaft auf die Lyrik zurück. Denn die Forschung zum Thema Artenschutz hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verbreitet und popularisiert. Neue Fachgebiete wie Biodiversitätsforschung entwickelten sich zwar erst in den 90er-Jahren, sind aber mittlerweile in den Medien sehr präsent.
Zum Teil recherchieren Lyriker heute genauestens über einzelne Tierarten, ihre Lebens- wie Aussterbebedingungen.
Dennoch haben die Gedichte Hans Magnus Enzensbergers, Günter Herburgers und die der heutigen Lyrikerinnen und Lyriker eines gemeinsam: Sie können sowohl als historische Zeugen eines Entwicklungs- und Aussterbeprozesses gelesen werden, aber auch als poetische Mahnmale.
Mehr zum Thema