Lese-Rechtschreibstörung

Besser schreiben lernen trotz Legasthenie

Schülerinnen und Schüler während einer Unterrichtsstunde.
Legasthenie - bis zu acht Prozent der Kinder leiden darunter. © imago/photothek
Von Friedericke Wigger und Sabine Huthmann · 23.11.2017
Schätzungen zufolge leiden etwa drei bis acht Prozent der Kinder und Jugendlichen hierzulande unter einer Lese- und Rechtschreibstörung. Mit einer neuen Methode wollen Wissenschaftler ihnen helfen, weniger Fehler zu machen. Erste Ergebnisse sind vielversprechend.
Ella: "Ok, Ich weiß selbst nicht mehr, was ich da geschrieben hab ... Das ist typisch für mich. Ich hab immer so geschrieben."
Ella blättert durch ihre Deutschhefte von früher. Der 13-Jährigen fällt Lesen und Schreiben deutlich schwerer als anderen Kindern in ihrem Alter.
Ella: "Am Anfang habe ich das noch nicht so gemerkt, und dann hab ich gestottert beim Lesen, konnte die Buchstaben nicht richtig lesen und hab halt nicht lautgetreu sozusagen geschrieben."
Ella hat eine Lese-Rechtschreibstörung, kurz LRS.
Ella: "Ich hab halt 'ist' nur mit 'st' und hab halt manche Buchstaben vergessen, ja und deswegen wurde ich getestet in so einer Akademie. Und dann wird das herausgefunden, ob Du halt sozusagen eingeschränkt bist bei Lesen und Schreiben, ob man wirklich stark LRS hat. Also ich hatte 'ausgeprägtes'."
Ella ist damit nicht allein: Schätzungen zufolge können zwischen drei und acht Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland anhaltend schlechter lesen und schreiben. Die Prozentzahl ist so vage, weil die Diagnose komplex und damit nicht sehr trennscharf ist. Neben einer Diskrepanz der Leistung zur Altersnorm und dem IQ spielt der gesamte Entwicklungsverlauf des Kindes eine Rolle.

Die Diagnose ist irrelevant

Corvacho: "Eigentlich ist die Diagnose, ich sage immer ein bisschen, für die Förderung irrelevant. Ich kann anhand der Fehler schon sagen, was ich mit dem Kind machen soll, damit es sich verbessert."
Irene Corvacho arbeitet am Institut für Psycholinguistik und Didaktik der deutschen Sprache an der Goethe-Universität in Frankfurt.
Corvacho: "Ich bin in Kolumbien aufgewachsen und auch geboren, habe in Deutschland studiert und promoviert und mein Forschungsgebiet ist die Rechtschreibstörung, die Legasthenie."
Sie führte eine Studie zur Rechtschreibtherapie durch.
Corvacho: "Die Kinder der Therapie waren in der Real-, Gymnasium und Hauptschule, also weiterführende Schulen in den ersten Jahren mit einer Geschichte von Förderung, die nicht effektiv war. Und wir haben sie therapiert, einmal die Woche, die Texte geschrieben, die Texte analysiert und in der Einzelförderung die individuellen Fehler besprochen, soweit sie da vorhanden waren."
Schüler einer 5. Klasse der BiL-Privatschule in Stuttgart sitzen an einem Tisch und malen
Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche brauchen eine besondere Förderung. © picture alliance/ dpa/ Uwe Anspach
Die genauen Ursachen der LRS sind bisher nicht geklärt. Auf jeden Fall spielt Vererbung eine große Rolle. Kürzlich ist es auch gelungen, anhand von MRT-Aufnahmen zu zeigen, dass Hirnareale, die mit Sprachverarbeitung zu tun haben, bei Legasthenikern anders geformt sind. Und bei vielen Kindern fällt eine phonologische Beeinträchtigung auf: Sie nehmen sprachliche Laute nur ungenau wahr.
Ella: "Ja, man hört es nicht so richtig und deswegen soll man es sich auch laut vorsprechen."

Gezieltes Üben

Corvacho: "Trainingsmaßnahmen sind, dass man versucht zum Beispiel bestimmte Lautkorrespondenzen zu tilgen, wie wenn ich bei Maus das M nicht mehr ausspreche, was steht da? Aus. Also eigentlich geht es über Wortspiele, sowohl auf der Silbenebene als auch auf der Phonemebene."
Man kann LRS also nicht kausal behandeln, jedoch durch gezieltes Üben die Rechtschreibleistungen verbessern. Das Besondere an Corvachos Ansatz ist, dass die Kinder jede Woche einen eigenen Text schreiben, anstatt mit fertigen Übungsblättern orthografische Themen zu bearbeiten.
Corvacho: "Welche Fehler wir machen, die sind sehr charakteristisch für das, was uns tatsächlich ausmacht, Talente oder ein Hinweis darauf, was wir nicht automatisiert haben."
Der freigeschriebene Text gibt einen guten Einblick in den Lernstand und die Denkweise des Kindes. Er wird zur Grundlage eines individuellen Therapieplans."
Corvacho: "Wir schauen nicht nur welcher Fehler, sondern wie oft der vorkommt und dann versuchen wir, eine Systematik in den Fehlern zu sehen und wir entscheiden, was muss es lernen, damit dieser Fehler nicht mehr vorkommt."
Mit den Kindern gearbeitet haben Lehramtsstudierende des Fachbereichs Germanistik. Irene Corvacho hat sie dafür geschult, denn ein profundes linguistisches Wissen ist für die Fehleranalyse der Texte Voraussetzung.
Corvacho: "Dafür hilft immer ein geschulter Blick. Wir haben Kinder mit 30 Fehlern auf 100 Wörter. 100 Wörter ist nicht viel, ne. Und da muss man halt sagen, was sind die wichtigen Fehler, in dem Sinne: Welche würden den Leser so stören in seiner Sinnentnahme, welches Wort das überhaupt ist - die muss man erst angehen. Und dann kommen die Fehler, wo wir wissen, das hat sofort große Effekte."
Die Methode wird auch auf den Förderunterricht Deutsch in der Schule übertragen. Irene Corvacho arbeitet hier mit der Lehrerin zusammen und die Schüler kommen nicht mal ungern.

Positive Erlebnisse sind wichtig

Yassin: "Mir ist eine gute Idee gekommen. Ich hab nämlich eine Fortsetzungsgeschichte geschrieben. Und das hat mir einfach so viel Spaß gemacht und auch die Lehrer, die da waren bei LRS, die haben mich auch gut ermutigt und wenn man eine Fortsetzungsgeschichte schreibt, man möchte die ja weiterschreiben, ist ja nicht anders wie bei den Serien."
Für Kinder, die oft mit Misserfolgen kämpfen, sind positive Erlebnisse besonders wichtig.
Corvacho: "Wir haben Kinder in der sechsten Klasse, die schreiben 'abfahren' mit 'p'. Und da muss man nur sagen, es gibt kein 'ab' mit 'p', es gibt nur 'ab' mit 'b' und dann sammelt man mit diesem Wort ganz viele Varianten, die es so gibt. Das ist etwas, das lerne ich in zwei Sitzungen sehr genau, sehr konkret und dann nehmen die Fehler sehr stark ab."
Neslihan: "Ich hab in meinen Texten Weihnachtsgeschenk immer falsch geschrieben und dann hat sie mir Aufgaben dazu gemacht. Und hier haben wir dann noch Wörter gesucht, also machen uns Wörterlisten und gucken."
Corvacho: "Also Morphemarbeit ist sehr wichtig, also mit Wortbausteinen zu arbeiten, weil das sind festgelegte Bausteine, die sich wiederholen."
Das Sammeln von Varianten und das Zerlegen in Wortbausteine helfen bei der sogenannten impliziten Regelbildung.
Corvacho: "Was wir anders machen, ist, dass wir wirklich wegkommen von Entscheidungsfragen, entscheide dich, hörst du ein P oder hörst du ein B, sondern wir konzentrieren uns wirklich auf das, was die Schüler nicht können oder nicht produzieren und üben das."
Neslihan: "Meine Klassenlehrerin hat auch gesagt, ich hab mich in Rechtschreibung bei den Klassenarbeiten gut verbessert."
Und auch alle Kinder der Studie haben sich nach 20 Fördersitzungen signifikant verbessert. Deshalb hat Irene Corvacho für ihre Forschungsergebnisse in diesem Jahr auch den Wissenschaftspreis des Bundesverbandes für Legasthenie und Dyskalkulie erhalten.
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