Lernen von den ganz Großen

25.10.2010
Der Autor, leitender Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, hat eine leicht lesbare und mit vielen Beispielen angereicherte Stilkunde verfasst. Er nimmt sich Sätze von großen deutschen Schriftstellern vor und zeigt daran, wie man gelungen spricht und schreibt.
Wer ein Buch über die deutsche Sprache schreibt, steht in der Gefahr, eine Anklageschrift zu verfassen. Doch keine Sorge: Hier geht es nicht um Sprachverfall, nicht um die Warnung vor zu vielen englischen Wörtern auf deutschem Boden oder grammatische Schwundformen in der alltäglichen Rede. Obwohl das alles auch vorkommt, stimmt Thomas Steinfeld, leitender Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, kein besserwisserisches Lamento à la Bastian Sick an. Er liefert eine leicht lesbare Stilkunde und zeigt, wie man gelungen spricht und schreibt.

Statt einen Schilderwald an Verboten zu pflanzen, setzt er auf das Prinzip der Nachahmung. Man lerne, so seine These, am liebsten mit einem Modell, einem guten Beispiel vor Augen. Das klingt auf den ersten Blick banal. Doch nur wer verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten kennt, versteht sie auch zu nutzen. Den besten Weg zu unserem wichtigsten Kommunikationsmittel weisen die Schriftsteller, denn sie sind es, die in ihren Texten die Varianten der Sprache stets aufs Neue erkundet und weiterentwickelt haben.
Das Buch besteht aus kurzen, in sich abgeschlossenen Essays. Darin nimmt Steinfeld ganze Sätze alter, aber auch moderner Klassiker auseinander und begründet, warum er die einen für geglückt, die anderen für misslungen hält. Ohne die Trockenheit herkömmlicher Ratgeber zeigt er dabei nicht nur die verschiedensten Stilarten auf, sondern auch, über welches besondere Potential das Deutsche im Unterschied zu anderen europäischen Sprachen verfügt. Wie man allein durch die Stellung des Verbs am Satzende Spannung aufbauen kann, zeigt er an Kafkas erstem Satz der "Verwandlung": "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt."

Dass sich mit Vorsilben Bedeutungen verschieben lassen, kann man bei Goethe lernen, bei Handke den Gebrauch des Partizips, um die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Vorgänge darzustellen, bei E.T.A. Hoffmann die belebende Wirkung starker Verben oder die irrlichternde Wirkung von Wiederholung und Zeitenwechsel bei Thomas Bernhard. Wenig hält Steinfeld von Nobelpreisträger Günter Grass. Dessen "geschraubten" Stil verbannt er in die Abteilung "Bürokratie und Pathos".

Weil diese Deutschkunde weniger normativen Charakter trägt, beweist die hemmungslos subjektive Auswahl den Mut zur Lücke. Wenn Thomas Steinfeld, der gelernte Sprachlehrer, der jahrelang an einer kanadischen Hochschule deutsche Grammatik unterrichtete, immer wieder Ausflüge in die Literaturgeschichte unternimmt, hat das ganz besonders historische Gründe. Knapp und anschaulich erzählt er, wie die Sprache, die wir heute benutzen, sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte. Anders als im politisch zentralisierten Frankreich war sie eng an die Literatur gebunden.

Gottsched, Lessing, Goethe, Wieland, Schiller erfanden im Geist von Pietismus und protestantischer Seelenerkundung ein vielfach neues Vokabular. Bevor es eine politische Nation gab, einten sie das Land im Medium der Sprache. Steinfelds unaufgeregte, bildungssatte Stilkunde, die weniger eine Kritik als ein Lob der Sprache anstimmt, liest man mit Gewinn. Selbst Verfasser von Gebrauchsanleitungen könnten hier erfolgreich in die Schule gehen.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Thomas Steinfeld: Der Sprachverführer. Die deutsche Sprache: was sie ist, was sie kann
Carl Hanser Verlag, München 2010
270 Seiten, 17,90 Euro
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