"Lernen ist mehr als ein Vermittlungsprozess"

Liane von Billerbeck im Gespräch mit Michael Schratz · 10.06.2011
Lehrer müssen nicht nur eine hohe Fachkompetenz mitbringen, sondern "auch das, was sie im Fach gelernt haben, den Schülern zur Erschließung der Welt beibringen", sagt der Bildungforscher Michael Schratz. Er ist Jurymitglied des deutschen Schulpreises, der besonders erfolgreiche Schulen auszeichnet.
Liane von Billerbeck: In diesen Minuten wird in Berlin der Deutsche Schulpreis verliehen, der mit 230.000 Euro insgesamt höchstdotierte Schulwettbewerb in Deutschland. Initiator und Finanzier sind zwei Stiftungen der Firma Bosch, übergeben wird der Preis in dieser Stunde vom Bundespräsidenten. Fünfzehn Schulen sind für diesen Deutschen Schulpreis 2011 nominiert, sieben davon werden ausgezeichnet.

Professor Michael Schratz sitzt von Beginn an in der Jury des deutschen Schulpreises, inzwischen ist der erfahrene Bildungsforscher von der Innsbrucker Universität, der unter anderem die OECD und die Europäische Kommission beraten hat, auch Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises. Und als solcher ist er natürlich jetzt bei der Preisverleihung dabei, wir haben also vorher mit ihm gesprochen. Herr Professor Schratz, könnte man sagen, beim Pisatest werden die Schüler geprüft, beim Deutschen Schulpreis Schulen und Lehrer?

Michael Schratz: Ja, indirekt haben Sie recht, denn dieser überprüft die Ergebnisse, sozusagen die Leistungen eines Schulsystems, nämlich auf der Basis dessen, was die Schülerinnen und Schüler leisten. Das sind auch nur jene Leistungen, die weltweit verglichen werden können, das sind natürlich standardisierte Tests, also die Produkte vom Unterricht, wenn man so will. Der Deutsche Schulpreis hingegen, der geht in die Tiefe. Der schaut auf die Prozesse, die zu diesen Ergebnissen führen, und zwar dort, wo die betroffenen und beteiligten Schule machen. Und das ist immer sehr stark bedingt durch die Bedingungen vor Ort, am Standort.

von Billerbeck: Für die Vergabe des Deutschen Schulpreises, da gibt es ja sechs [meint:sieben] Kriterien: Leistung, Umgang mit Vielfalt, Unterrichtsqualität, Verantwortung, Schulklima, Schulleben und außerschulische Partner und Schule als lernende Institution. Haben sich diese Kriterien seit 2006 geändert?

Schratz: Die Kriterien haben sich an und für sich nicht geändert, weil diese Bereiche ja übergeordnete Qualitätsparameter sind. Sie bilden sozusagen den Rahmen, und der ist wissenschaftlich abgesichert, hat sich auch in der Praxis bewährt, ist auch international anerkannt. Was immer wieder umstritten ist, welche Kriterien sind das, nach denen beispielsweise Leistung gemessen wird oder an denen die Verantwortung gemessen wird. Weil da gibt es an jeder Schule unterschiedliche Bedingungen dafür. Deswegen ist es auch gut, dass immer mehrere Personen in der Jury versuchen, aus ihrer Sicht, diese einzelnen Kriterien anhand von Indikatoren abzuleiten.

von Billerbeck: Die Jury für den Preis der besten deutschen Schulen, die macht sich ja auf den Weg zu diesen Schulen und guckt sich diese Schulen an. Wie läuft das ab.

Schratz: Ja, erstens einmal ist das nicht wie früher beim Schulinspektor, der an die Schule geht, sondern es geht immer ein Team, und zwar ein sehr unterschiedlich zusammengesetztes Team. Das heißt, wir haben einerseits Wissenschaftler/innen, wir haben Praktiker/innen, wir haben Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Schultypen, nationale, internationale Vertreterinnen und Vertreter aus der Jury.

Und dann geht es in der Schule einerseits in den Unterricht, es wird sehr viel Unterricht besucht – nicht immer ganze Stunden, sondern wir wollen möglichst viele Unterrichtsstunden sehen, und auch nicht nur vorbereitete Stunden, sondern wir gehen dort hin – und das ist auch immer eine Vorbedingung –, wo wir denken, dass es wichtig ist, noch Erfahrungen zu sammeln. Dann erfolgen natürlich Interviews mit der Schulleitung, mit den Lehrerinnen und Lehrern, mit den Schülerinnen und Schülern, mit den Eltern und sonstigen Partnern.

Dadurch bekommt man in zwei Tagen ein recht breites Bild von einer Schule, und die Schulen sagen dann bei der Rückmeldung immer, sie sind überrascht, wie es möglich ist, dass man in der kurzen Zeit so genau die Schule kennenlernt, und wir merken natürlich auch, weil wir sehr genau anhand der Indikatoren dieser Bereiche dann die Erfahrungen bündeln und zuspitzen auf die Bewertung, ob eine Schule tatsächlich in allen Bereichen gut ist. Das ist einmal zunächst die Voraussetzung, um überhaupt in die Endauswahl um den Deutschen Schulpreis zu gelangen.

von Billerbeck: Nun sind das alles gute Schulen, die da schon in die Auswahl kommen, die sie dann besuchen. Aber wer flog da raus und vor allen Dingen: Warum? Können Sie da vielleicht mal ein Beispiel erzählen, Herr Professor Schratz? Was war das zum Beispiel?

Schratz: Wir hatten eine Schule, die international sehr bekannt war, weil sie im naturwissenschaftlichen praktischen Bereich ungemein spannende Projekte hatte, sich in der Kommune eingemischt hatte dort, Wasseruntersuchungen für die Kommune gemacht hat, mit Partnern zusammen an ökologischen Projekten gearbeitet hat, …

von Billerbeck: … aber?

Schratz: … aber dann hat sich herausgestellt, dass die anderen Fächer dadurch ganz an den Rand gedrängt wurden, die Schüler sehr oft fehlten, dadurch die Leistungen in den anderen Fächern nicht erbringen konnten – und das können wir natürlich nicht als Zeichen einer guten Schule nennen, wenn die Fächer sozusagen darum streiten, wer ist exzellenter als die anderen? Deswegen bewerten wir die gute Schule und nicht guten Fachunterricht in einzelnen Bereichen.

von Billerbeck: Professor Michael Schratz ist mein Gesprächspartner, der Innsbrucker Bildungsforscher ist Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises. Wir haben ja viel über den Preis geredet und über die Wege dorthin, aber ausgezeichnet wird ja letztlich die Leistung der Lehrer. Wie gut sind sie denn, die deutschen Lehrer, im internationalen Vergleich?

Schratz: Also, international haben unsere Lehrerinnen und Lehrer im deutschen Sprachraum insgesamt, in Deutschland im speziellen, einen sehr hohen Stand. Das zeigt sich einerseits an der universitären Ausbildung, zeigt sich andererseits auch an der Dauer. Was allerdings schwieriger ist, dass dieser hohe Anspruch dann in der Schule tatsächlich auch umgesetzt wird.

Zum Beispiel haben die Lehrerinnen und Lehrer eine sehr hohe fachliche Kompetenz, die sie mitbringen. Jetzt geht es aber darum – und hier bestehen am ehesten Schwierigkeiten, die ich immer wieder orte –, sie für den Unterricht unmittelbar nutzbar zu machen. Es geht ja nicht darum, dass die Lehrer einen Bonsai-Hochschulunterricht in der Schule machen, sondern dass sie versuchen, das, was sie im Fach gelernt haben, den Schülern zur Erschließung der Welt beibringen, das heißt, dass sie erleben: Was ist das besondere der Mathematisierung von Welt? Was hilft mir das, was ich in Geografie lerne? Wie kann ich Geschichte nutzbar machen und selbst als künftiger Staatsbürger oder Staatsbürgerin die nächste Epoche der Geschichte mit zu schreiben?

von Billerbeck: Das heißt, dass die Lehrer gute Fachleute sind, aber nicht gut vermitteln können?

Schratz: Ich würde sagen, es ist nicht nur das Vermitteln, sondern Vermitteln ist ja ein ganz menschlicher Prozess, da steht ja die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern im Vordergrund. Und es geht darum – und das sehen wir auch immer wieder in den Siegerschulen –, dass dort, wo ein respektvoller Umgang zwischen Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern stattfindet, am ehesten die Gewähr da ist, dass tatsächlich Lernen mehr ist als nur ein Vermittlungsprozess, denn ich brauche immer auch die Schülerinnen und Schüler, die bereit sind, sich einzulassen, sonst nützt mir eigentlich das beste Fachwissen nichts!

von Billerbeck: Wenn man aber die Anforderungen an den Lehrerberuf betrachtet, dann müsste man davon ausgehen, dass eigentlich nur die besten Absolventen der Schulen und Hochschulen Lehrer werden sollten. Ist das so oder zieht der Beruf die Falschen an?

Schratz: Ich würde nicht sagen, dass er die Falschen anzieht. Denn wenn jemand sagt, ich möchte Grundschullehrerin werden, dann ist das meistens schon ein Profil, das sich die Bewerberinnen und Bewerber vorgestellt haben. Und wenn jemand sagt, ich möchte gerne in der Sekundarstufe zwei unterrichten, dann ist das meistens auch schon ein gewisser Motivationsteil, der hier im Vordergrund steht.

Das Problem ist eigentlich, dass es schwieriger ist, dass die künftigen Lehrerinnen und Lehrer erleben, was heißt das jetzt tatsächlich, in diesem anspruchsvollen Beruf dann später tätig zu sein. Es kommen sehr viele mit Idealvorstellungen von dem, was Unterricht dann sein könnte, sie denken aber oft nicht daran, dass die Jugendlichen und die Kinder von heute ganz anders sozialisiert sind als sie selbst es wurden. Und da gibt es meistens dann Divergenzen, die Erschütterungen schaffen und auch einige Zeit brauchen, bis die Lehrerinnen und Lehrer tatsächlich dann merken, wie können sie ihren Beruf so ausfüllen, dass er sie einerseits selbst befriedigt und andererseits, dass natürlich auch die Schülerinnen und Schüler die Leistungen erbringen, die sie erbringen sollten.

von Billerbeck: Das klingt aber so, als ob da noch große Defizite in der Lehrerausbildung sind, denn diese Veränderungen in der Sozialstruktur, in der Herkunft der Schüler, die sind ja nicht erst seit gestern bekannt.

Schratz: Ja, ich mein, zwischen bekannt und umgesetzt, das ist fast der größte Schritt des Ganzen. Die Schulen und Bildungsinstitutionen sind – und das hat ja auch eine wichtige Funktion, dass sie nicht von heute auf morgen verändert werden. Ich kenne das aus Italien, wo ein Minister die Notengebung abschafft, der Nächste schafft sie wieder an. Das ist dann sehr schwierig, unter solchen Bedingungen zu arbeiten und dadurch sind natürlich solche Entwicklungsprozesse im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit – das ist ja das ganze Gut einer Gesellschaft, das vermittelt werden muss – und der Zukunft, wo man noch gar nicht weiß, was gebraucht wird.

Und wenn ich das am Beispiel des Lateinunterrichts aufzeige, gibt es die eine Strömung, die sagt, Nein, wozu soll man überhaupt noch Latein lernen, und die anderen sagen, das ist eigentlich eine ganz wichtige – für uns in Europa wichtige – Sache, wo wir uns auch unterscheiden, von Amerika beispielsweise. Und diese Spannung, die wirkt sich natürlich überall in Bildungsinstitutionen aus und das ist auch wichtig in einem demokratischen Staat, und dadurch sind Veränderungen natürlich nicht so leicht von heute auf morgen möglich.

Und das ist bei uns auch ein Problem, dass die Bildung sehr stark parteipolitisch auch hinterlegt ist, während in anderen Ländern, wo gesagt wird, wir brauchen eigentlich die ganze Energie, um zu schauen, wie können wir es verhindern, dass wir einen Schüler oder eine Schülerin verlieren. Und die Länder, die das schaffen, eine gemeinsame Haltung quer durch das ganze System von der Politik bis zum Unterricht durchzukriegen, die haben die größten Chancen, erfolgreich zu sein. Und das sieht man bei diesen internationalen Vergleichsstudien sehr deutlich.

Bei uns ist es oft so, dass die Schulen über das Ministerium schimpfen, die Ministerien werfen den Schulen vor, dass sie das nicht umsetzen, was sie vorgeben. Und das kostet sehr viel Energie, die unseres Erachtens – und das sehen wir in den Schulpreisschulen immer wieder, wo sich eine Schule ein Ziel setzt und sagt, an dem arbeiten wir konsequent. Dort wird einfach gemeinsam für die Kinder und für deren Zukunft ein Modell erarbeitet, an dem alle mitarbeiten.

von Billerbeck: Sagt Michael Schratz, der Sprecher der Jury des deutschen Schulpreises, der in diesen Minuten in Berlin vom Bundespräsidenten vergeben wird.
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