Lemberg oder Lwiw? Breslau oder Wroclaw?

Von Richard Szklorz · 28.06.2012
Lemberg, Lwów, Lwiw, Lvov. So viele Namen kann eine und dieselbe Stadt haben. Die Vielzahl widerspiegelt eine bewegte Geschichte. In der aktuellen Berichterstattung über die Fußball-EM geht den Reportern der deutsche Name der ostgalizischen Metropole manchmal erstaunlich leicht über die Lippen. Das war bis vor einigen Jahren keine Selbstverständlichkeit.
In Deutschland war das Verwenden alter deutscher Namen für Orte, die im östlichen Europa liegen, lange umstritten. Aus alter DDR-Gewohnheit oder westdeutscher Political Correctness wurden Verknotungen der Zunge hingenommen. Bei Szczecin zum Beispiel, obwohl sich das deutsche "Stettin" vom polnischen "Szczecin" nur unwesentlich unterscheidet.

So konnte es manchmal zu grotesken Situationen kommen, dass ein polnischer Gesprächspartner, der die Dinge lockerer sah, in einer auf Deutsch geführten Unterhaltung von "Breslau" oder "Danzig" sprach, während sein deutsches Gegenüber es mit "Wroclaw" und "Gdansk" versuchte.

Leicht konnte man da auf die Idee kommen, in einer verborgenen Ecke der eigenen Seele, könnte durch ein allzu frei ausgesprochenes "Breslau" oder "Danzig", der Dämon "Revanchismus" wachgerüttelt werden. Vielleicht ist mit Lemberg ein guter Einstieg für einen ungezwungenen Umgang mit den alten Namen gemacht. Denn diese Stadt hatte wenig mit Deutschland zu tun, dafür umso mehr mit einem untergegangenen Flächenstaat, der den hübschen Namen Kaisertum Österreich trug.

Und doch erinnert der Name Lemberg daran, wie tief das, was man den deutschen Kulturkreis nannte, in den Osten des Kontinents hineinreichte. Österreichs Verwaltung, sein Schulwesen und seine relative Toleranz gegenüber Minderheiten verlieh dem östlichen Galizien ein fast mitteleuropäisches Gepräge, mit Deutsch als Lingua franca.

Auch die Juden Galiziens sprachen gerne Deutsch. Sie schenkten der deutschen Literatur und Kultur nicht nur den genialen Josef Roth. Für sie symbolisierte der deutsche Kulturkreis Modernität und Fortschritt. Nachdem er sich in ein Monster verwandelt hatte, dankte dieser "Kulturkreis" ihnen diese Anhänglichkeit mit physischer Vernichtung.

Noch lange wird es als Anomalie erscheinen, dass es eine unübersehbare Zahl deutscher Bezeichnungen für Orte gibt, die sich in Folge der Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg über Nacht außerhalb des deutschen Sprachraums wiederfanden. Die gekappten Verbindungen werden sich noch lange als eine Art Phantomschmerz in Erinnerung rufen, immer wieder aufs Neue in unsere Gegenwart vorstoßen und ins Gedächtnis bringen, dass die kulturelle Identität der Deutschen einst viel bunter war, wegen der engen Nachbarschaft mit anderen Völkern.

An diesen Orten und auch an vielen anderen, kleinen und unbekannten hängen nicht nur große Namen, sondern Jahrhunderte von Siedlungs-, Kultur- und Industriegeschichte, die im Schutt des Krieges und seiner Folgen unterging. Ein unwiederbringlicher Verlust. Auch die Erinnerungen der sogenannten Erlebnisgeneration konnten ihn nur unzureichend festhalten.

Manches taucht unversehens wieder auf. Oder wird ausgegraben, in Archiven oder Erinnerungen. Immer häufiger auch von nachdenklichen Polen und Tschechen.

Denn die Gründlichkeit, mit der nach dem Krieg alle Spuren der Vergangenheit herausgemeißelt und übertüncht wurden, damit es so aussah, als hätten dort nie Deutsche gelebt, diese Gründlichkeit machte stutzig und weckte die Neugierde mancher, die heute in diesen Landschaften leben und verstehen möchten, was sich hinter ihrer, manchmal aufbrechenden Melancholie verbirgt.


Richard Szklorz wuchs in der Nachkriegs-Tschechoslowakei auf. Er lebt schon seit Jahrzehnten in Berlin, dort arbeitet er als Journalist.
Szklorz, Richard
Richard Szklorz© privat