Leitfaden statt Leitkultur

Eine Debatte wohlfeiler Polemik

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Ist das "Leitkultur"? Händeschütteln bei Vertragsabschluss. © Deutschlandradio / Jörg Plath
Von Arno Orzessek · 02.05.2017
Die Debatte um eine wie auch immer geartete Leitkultur verläuft unproduktiv. Kehrt man die Perspektive um, ließe sich aber fragen: Enthalten die Thesen das, was Migranten über Deutschland und die Deutschen zu ihrem eigenen Nutzen wissen sollten? Dienen sie der Orientierung für Neuankömmlinge?
Mutig ist er, der Herr Innenminister! Thomas de Maziére wusste ja bestimmt, dass er es mit seinen Thesen zur Leitkultur allen Gegnern leicht machen würde. Schließlich hat sich die Debatte binnen 20 Jahren mehrfach wiederholt – und das Ergebnis war immer das gleiche:
Keine konkrete Idee über die Ausgestaltung der Leitkultur hat je halbwegs flächendeckende Zustimmung erfahren, so oft auch "Luther, Bach, Goethe, Hitler und Auschwitz kennen" als kerndeutsche Merkmale beschworen wurden.
Dass de Maziére jetzt übrigens das Händeschütteln und Namen-Sagen als leitkulturelles deutsches Gruß-Ritual fixiert, wird womöglich am meisten die Satiriker freuen.
Sobald die Leitkultur-Verfechter in der Vergangenheit indessen grundsätzlich und deshalb abstrakt wurden, von wegen Recht, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, bekamen sie zu hören: Es steht doch längst alles Nötige im Grundgesetz.
Navid Kermani bemerkte: "Vor dem Grundgesetz sind alle gleich, in einer Leitkultur nicht."
Was unausgesprochen besagt: Leitkultur diskriminiert per se, selbst bei besten Vorsätzen – und das darf man nicht wollen. Womit das Projekt Leitkultur intellektuell praktisch für erledigt erklärt werden könnte.

Klare Orientierungsmöglichkeiten für Neuankömmlinge

Nur zeigt sich spätestens seit der massiven Zuwanderung ab Spätsommer 2015, dass die Integration im Alltag Probleme aufwirft, die tatsächlich oft mit Unkenntnis der hiesigen Lebensweise zu tun haben ... Wozu auch scheinbare Banalitäten wie striktes Zeitmanagement, sprich: Pünktlichkeit, und das unstrittig weit verbreitete Leistungsdenken gehören.
Gewiss überzieht De Maziére, wenn er in Abwandlung eines berühmten Faust-Zitats behauptet, es gebe etwas, was "uns [Deutsche] im Innersten zusammenhält" – und dann auf "Allgemeinbildung" und die musikalische Umrahmung von Schul-Veranstaltungen zu sprechen kommt. Beides hält uns sicher nicht zusammen, am wenigsten im Innersten – und ein weiteres Mal dürfen sich die Satiriker die Hände reiben.
Aber nur weil wir uns mehrheitlich auf keine Leitkultur einigen können, sollten wir den Menschen, die hierher kommen, klare Orientierungsmöglichkeiten in puncto Sitten und Gewohnheiten nicht versagen.
De Maziéres Thesen haben eine deutsche Binnen-Keilerei unter der üblichen Verdächtigen provoziert. Produktiver wäre es jedoch, die Perspektive umzukehren und zu fragen: Enthalten die Thesen das, was Migranten zumal aus entfernten Kulturkreisen über Deutschland und die Deutschen zu ihrem eigenen Nutzen wissen sollten?
Oder anders: Hat de Maziére das formuliert, was wir über uns erzählen wollen, damit sich die Ankömmlinge besser zurechtfinden in der für sie fremden, seltsamen Welt?

"Leitkultur" taugt nicht für so eine Erzählung

Vermutlich lässt sich der Begriff "Leitkultur", der zum politischen Kampfbegriff geworden ist, kaum so entschärfen, dass er zum Titel einer solchen Erzählung taugt. Nun, dann eben nicht!
Migranten hilft es ja selten zu wissen, ob dieses oder jenes Verhalten zur "Leitkultur" oder gar zur "deutschen Identität" gehört. Es nützt ihnen aber zu wissen, dass zum Beispiel das Kompromisse-Schließen – de Maziére erwähnt es – eine eingewurzelte, keineswegs ehrabschneidende Kulturtechnik ist.
Kurz: Ersetzte man im Text des Innenministers die "Leitkultur" durch einen unauffälligen Platzhalter, wäre er eine passable Vorlage für eine sinnvolle Debatte jenseits wohlfeiler Polemik. Fragt sich nur, ob de Maziére in diesem Punkt kompromissbereit wäre.
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