Leif: Medien sind auf falsche Experten und "Mietmäuler" fixiert

Thomas Leif im Gespräch mit Holger Hettinger · 09.07.2010
Thomas Leif, SWR-Chefreporter und Vorsitzender des Vereins "netzwerk recherche", verlangt mehr Pluralität statt der immergleichen Experten sowie eine strikte Trennung von Journalismus und PR.
Holger Hettinger: Investigativer Journalismus, das ist eine Spielart der Berichterstattung, bei der die Erkenntnisse nur mit Finesse, Erfahrung, Kontakten und letztlich auch einer aufklärerischen Grundhaltung gewonnen werden – unter anderem deswegen, weil diejenigen, über die da berichtet wird, diese Erkenntnisse lieber unter dem Deckel halten möchten. Investigativer Journalismus, das ist Watergate und Barschel-Affäre, das sind Rote-Rosen-Träger und Wühlerei bis spät in die Nacht. In Deutschland ist investigativer Journalismus untrennbar verbunden mit dem "netzwerk recherche". Der Verein ist ein Zusammenschluss von investigativ arbeitenden Journalisten. Dabei haben die Mitglieder nicht nur die investigative Praxis auf dem Schirm, sondern die Qualität im Journalismus ganz allgemein. Der Erste Vorsitzende ist Thomas Leif, er ist der Chefreporter des Südwestrundfunks. Ich grüße Sie, Herr Leif!

Thomas Leif: Hallo!

Hettinger: Herr Leif, die diesjährige Jahreskonferenz hat das Leitmotiv "Wenn Experten die Wirklichkeit dran glauben lassen". Sie machen allein sieben Veranstaltungen zu diesem Thema, unter anderem eine mit dem hinreißenden Titel "Und täglich grüßt der Spezialist". Was ist so falsch daran, wenn sich Redaktionen auf Sachverstand von außen stützen und Menschen fragen, die sich durch eine lange Beschäftigung mit ihrem Thema eine große Erkenntnistiefe erarbeitet haben?

Leif: Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil, wir sind ja dafür, dass qualifizierter Sachverstand in die Medien einfließt, nur haben die Befürchtungen und auch das untersucht, dass immer wieder die gleichen Namen kommen und es sehr wohl im Zweifel steht, ob diese Leute, die als Experten tituliert werden und ausgesucht werden, auch tatsächlich Experten sind oder ob sie bestimmte Interessen massiv vertreten oder aber auch nicht gerade auf dem aktuellsten Stand sind. Die Medien neigen dazu, Leute auszuwählen, die ihre Techniken und ihr Funktionsgefüge erfüllen, aber nicht unbedingt das beste Wissen präsentieren. Nehmen Sie nur die Schweinegrippe, da merken Sie in der kurzen Erinnerung, dass dort pharmaorientierte Vertreter sehr wohl das Wort geführt haben und entsprechend fielen auch die Beschlüsse. Wir plädieren im Grunde dafür, genauer hinzuschauen, wer ist für welche Sachgebietsfrage auch wirklich Experte.

Hettinger: Sie haben in diesem Themenkreis den sehr schönen Begriff vom "Mietmaul" geprägt, also Experten, die durchaus Sachverstand für ihr Themengebiet haben, aber in einem Geflecht von Abhängigkeiten kleben und daher das Liedlein derer singen, die sie finanzieren. Wie genau erkennt man solche "Experten" in Anführungszeichen?

Leif: Manchmal genügt eigentlich nur der ganze simple Griff zu einer Suchmaschine oder aber auch zur Homepage des jeweiligen Experten oder der Expertin, dann merkt man nämlich, welche speziellen Gutachten sie in Auftrag gegeben haben und gelöst haben, für welche Initiativen sie in der Öffentlichkeit sprechen. Nehmen wir nur sogenannte Rentenexperten. Da würde es mich schon ein bisschen abschrecken, wenn gleichzeitig der sogenannte Rentenexperte auch bei einem Versicherungskonzern auf der Payroll, der Gehaltsliste steht und dort bestimmte Geschäftsmodelle ausarbeitet. Das meinen wir damit. Es ist günstiger, jemanden auch pharmakritisch zu befragen, wenn es um Pharmaindustrie geht oder wenn es etwa auch um andere Themenfelder geht, lieber die zweite Meinung zu befragen. Und man kriegt eigentlich sehr schnell raus, welche Reputation der einzelne Forscher oder Experte hat. Ein Blick auf die Publikationsliste hilft da sehr oft oder auch nur ein Vorgespräch, wo man einfach abklopft, wer steckt eigentlich dahinter. Und wir wollen verhindern, dass diese große Zahl an "Mietmäulern", in Anführung, genutzt wird, und wir wollen eigentlich plädieren dafür, dass Sachverstand auch dann zu Wort kommt, wenn nicht unbedingt Prominenz damit verbunden ist. Also in elektronischen Medien wird sehr oft der Begriff des gesichtsbekannten Menschen gesehen, und wir haben durchaus auch skurrile Gäste in Hamburg, die nur deshalb immer wieder als Experten kommen, weil sie die Produktionsbedingungen der Medien erfüllen: Kurz, knapp und populär zu reden, aber nachher ist die Substanz doch recht dünn.

Hettinger: An wen denken Sie da?

Leif: Also ich würde es auch ihm selbst sagen … Jo Groebel finde ich schon skurril, dass er als Medienexperte in Deutschland immer wieder genutzt wird, manchmal auch als Psychologieexperte und was weiß ich was alles. Er beherrscht sein Handwerk, keine Frage, aber …

Hettinger: Er ist ein begnadeter Erklärer.

Leif: Ist er, aber mein Zweifel ist schon, ob er sagen wir mal wissenschaftlich so ausgewiesen ist, dass er die Breite an Themen, zu denen er befragt wird, wirklich abdeckt. Ich glaube, er sieht es auch selbstironisch auf vielen Stellen, aber er ist in den Karteien drin, und er kann gut erklären, dass will ich nicht bezweifeln. Aber mein Plädoyer wäre, dass gerade auch in wichtigen Themenfeldern – Parteienforschung, Wahlforschung – wir eine höhere Pluralität an Meinungen und Einschätzungen hätten. Und es gibt sehr viele junge Wissenschaftler, die frisch ihre Habilitation oder Dissertation geschrieben haben, die oft viel besser in den Themen drin sind als die alten Vorleute.

Hettinger: Ich weiß es aus eigener Erfahrung, so was kann natürlich mächtig Arbeit bedeuten, wenn mir jemand im Vorgespräch sagt, ich habe noch nie ein Radiointerview gegeben, und dann hat man natürlich gleich so diesen Film im Kopf ablaufen: Um Himmels willen, da sitze ich jetzt bis spät in die Nacht und schneide.

Leif: Richtig, aber es gibt auch die andere Methode: Kleine Leitfragen – mit dem Prinzip arbeiten wir –, acht, neun Leitfragen den Leuten schicken, so dass man das konzentriert und systematisiert, und Sie werden überrascht sein, welche Erfolge Sie damit haben.

Hettinger: Das Netzwerk Recherche steht für investigativen Journalismus, also für eine Spielart unserer Zunft, die mit hartnäckiger journalistischer Ermittlungsarbeit Dingen auf die Spur kommt, die diejenigen, die es betrifft, ungern preisgeben. Nun gibt es in der Presselandschaft zwei Entwicklungen, die auf den ersten Blick entgegengesetzt zu wirken scheinen. Auf der einen Seite sind da große, renommierte Blätter, die auf Sparkurs schippern und es sich nicht mehr leisten können oder wollen, einen Kollegen, eine Kollegin mal zwei, drei Wochen in einer Sache wühlen zu lassen. Auf der anderen Seite schießen Investigativpools und Rechercheteams förmlich aus dem Boden, zuletzt bei der "Welt". Wie geht das zusammen?

Leif: Ja, das ist ein innerer Widerspruch, und man muss das auch durchaus kritisch beäugen, weil da natürlich die Gefahr drin besteht, dass die großen Häuser das kritische, reflektierende, recherchierende Moment als Marketingtrick nutzen. Alle sind ja daran interessiert, aus diesen exklusiven recherchierten Geschichten auch Nachrichten zu generieren und genannt zu werden. Und wir sagen, nichts dagegen einzuwenden, einerseits diese Pools zu gründen und auch Erfahrungswissen zu bündeln, aber andererseits in der Breite die Kapazitäten und Ressourcen für Recherche nicht zu vernachlässigen. Und genau in diesem Spagat besteht der Konflikt. Und wir sind selbst überrascht, wie diese Inflation von Recherchepools jetzt zustande kommt und wie man plötzlich sich dem Thema widmet – einerseits eine Bestätigung unserer Arbeit, andererseits auch kritische Stimmen von der sogenannten Basis der Redaktionen, die sagen, aber bei uns wird es immer schlimmer, wir haben immer weniger Zeit und verarbeiten im Grunde nur das Material, was uns über Agenturen oder Dritte geliefert wird und haben gar nicht mehr die Zeit, den Dingen auf die Spur zu gehen. Also das ist der innere Widerspruch, über den wir auch in Hamburg intensiv diskutieren.

Hettinger: Investigativer Journalismus, Herr Leif, ist einerseits eine Spielart, letztlich auch ein Stück weit eine Technik, aber es ist auch eine Haltung, vertreten von Journalisten, die ein ganz gewisses aufklärerisches Bewusstsein haben, um es mal pathetisch auszudrücken, und auch über ein ganz bestimmtes Berufsbild verfügen. Wenn man sich nun einige Tendenzen anschaut, da scheint es so, als würde genau das aufgeweicht. Da gibt es Pressenachwuchsarbeit, wo die Arbeit in der Pressestelle genauso zum Ausbildungskanon gehört wie die Tätigkeit in der PR-Agentur, nach dem Motto: Man muss in diesen wirtschaftlich klammen Zeiten breit aufgestellt sind. Viele freie Journalisten reagieren auf die Krise und bieten gleichzeitig Journalismus und PR an. Schadet das dem investigativen Geschäft?

Leif: Das schadet dem Geschäft, aber es schadet vor allen Dingen auch dem Ruf des Journalismus insgesamt. Das, was Sie gerade skizziert haben, ist ja auch in einer ganz frischen Untersuchung noch mal in einer Diplomarbeit rausgekommen, dass bei vielen jungen Journalisten einfach die Grauzone zwischen Journalismus und PR längst fließend ist und dass sie gar kein schlechtes Gewissen dabei haben, wenn sie die Berufsrollen verwechseln. Diese Diskussion führen wir seit zehn Jahren mit einer Intensität und Schärfe. Ich glaube, da hat sich vieles verändert durch den ökonomischen Druck einerseits, aber auch durch die Masse von jungen Leuten, die diesem Beruf nachgehen wollen, ergibt sich dieses Problem. Und dann sagen sie, wir können davon nicht leben, also machen wir PR. Aber man muss dagegen angehen. Nichts ist dagegen einzuwenden, wenn sich jemand für die Public-Relation-Branche entscheidet und dort seinen Beruf ausübt, das ist okay, aber wenn man Journalist ist, geht das nicht. Warum? PR ist immer interessengeleitet. Es bezieht sich darauf, dass man bestimmte Argumente stark macht, andere auslässt. Wir kennen aus internen Studien die Problematik, dass es drum geht, Journalisten zu manipulieren, etwa jetzt bei der Atomindustrie – schriftlich nachgewiesen durch Papiere, durch Studien von ihnen –, und das lässt sich nicht in Einklang bringen mit dem Beruf des Journalisten, der mehrere Quellen prüfen muss, und zu einem unabhängigen eigenen Urteil kommen soll. Wir haben da noch eine lange Wegstrecke vor uns, und im Grunde werden wir auch diese Konflikte austragen müssen. Aber ich gebe selbstkritisch zu, es ist eigentlich schlimmer geworden und schlechter geworden als vor etwa einem Jahrzehnt, weil einfach der Druck, der ökonomische Druck massiv ist und die PR-Industrie und die Firmen sich auch die besten Leute wegkaufen. Und da verdienen sie einfach viel mehr in dieser Industrie und können das im Journalismus überhaupt nicht erreichen. Und das macht den Job auch für viele attraktiv.

Hettinger: Sie sprechen da ein Gebiet an, Thomas Leif, dass auch die Unternehmen gewaltig aufgerüstet haben, was PR und was Lobbyarbeit anbetrifft. Ich musste kürzlich sehr, sehr lachen, als ich bei einem großen Unternehmen angefragt habe und dort an eine Stabsstelle für Dialogmanagement verwiesen wurde, wo mir ganz flauschige, ganz hilfsbereite und wunderbar auskunftsfreudige Menschen genau das erzählt haben, was ich eigentlich nicht hören wollte. Inwieweit spielt das eine Rolle, dass hier die Unternehmen den Ball ziemlich virtuos aufgreifen und mit einem hohen Maß an Ressource, aber auch an Kenntnis hier, so was wie die Berichterstattung über sie, manipulieren ist jetzt vielleicht ein bisschen hartes Wort, aber doch sehr gezielt steuern wollen?

Leif: Steuern und lenken, also Ihre Hypothese ist richtig. Also da wurde in den letzten Jahren massiv aufgerüstet, vor allen Dingen auch sehr differenziert im Kommunikationsangebot gearbeitet. Es gibt natürlich eine Menge Journalisten, die deshalb eingekauft werden – mir hat das mal einer erzählt am Beispiel der Telekommunikationsindustrie, der selbst die Belange der Journalisten ganz genau kennt und diese Belange auch aufgreift. Die reden kollegial mit ihnen. Es ist nicht mehr diese plumpe Ansprache, mach das so und so, sondern es sind intelligente Leute, die natürlich die Botschaften, die das jeweilige Industrieunternehmen hat, präsentieren wollen. Und es ist eine sehr große Gefahr, weil die Immunisierung der Journalisten gegen diese Entwicklung schwach ist. Nehmen Sie das Beispiel ganz aktuell, dass die neue Vorsitzende von Transparency International auch diese PR-Studiengänge und Kommunikationsstudiengänge in Berlin jetzt mit betreibt und dort auch lehrt. Das ist ja schon ein Zeichen dafür, wenn da Leute sich bewerben, aha, die Transparency-International-Vorsitzende arbeitet dort auch, da können wir doch hingehen.

Hettinger: Das sind die Guten, ne?

Leif: Das sind die Guten – es gibt einen unglaublichen Sog in diesem Bereich und, ja, das ist ein Kampf David gegen Goliath, und ich glaube, es würde vieles ändern, wenn die Hierarchen in den Sendern, aber auch in den Chefredaktionen selbst sagen: Nein, das machen wir nicht mit, wir versuchen in der Ausbildung und auch in der Praxis dafür zu sorgen, dass diese interessengeleitete Information auch so gekennzeichnet wird. Und wenn das passieren würde und man würde noch zwei, drei andere Quellen hören, dann wären wir auf einem guten Weg und könnten das mit relativ einfacher Selbstimmunisierung lösen.

Hettinger: Schönen Dank! Das war Thomas Leif. Er ist Chefreporter des Südwestrundfunks und erster Vorsitzender des Vereins "netzwerk recherche". Das "netzwerk recherche" hält jetzt am Wochenende in Hamburg seine Jahreskonferenz ab. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Leif: Ebenfalls!