Leiden an einer Psychose

08.06.2010
"Atmosphärische Störungen" von Rivka Galchen beginnt mit einer winzigen Wahrnehmungsverschiebung, die gravierende Auswirkungen hat. Der Psychiater Leo Liebenstein leidet offenbar an einer Psychose, einer Krankheit, die für eine Autorin den Vorzug hat, alles und jedes in ein elaboriertes Weltbild integrieren zu können.
Dr. med. Leo Liebenstein weiß als Psychiater, dass die Wirklichkeit keine objektive und feststehende Angelegenheit ist. Es verwirrt ihn dennoch, dass eines Tages eine Frau seine Wohnung betritt, die aussieht wie seine Frau Rema, die die gleiche Handtasche trägt, den gleichen babyblauen Mantel mit den dunkelgrauen Riesenknöpfen, das gleiche maisblond gefärbte Haar, den gleichen Pony. Alles ist gleich, nur ist die Frau nicht Rema. Sondern ein "Simulakrum", sagt sich Liebenstein. "Ich träume." Aber es ist kein Traum, sondern Wirklichkeit. Liebensteins Wirklichkeit.

"Atmosphärische Störungen", das Debüt der 1976 geborenen Nordamerikanerin Rivka Galchen, beginnt mit einer winzigen Wahrnehmungsverschiebung, die gravierende Auswirkungen hat. Liebenstein leidet offenbar an einer Psychose, einer Krankheit, die für eine Autorin den Vorzug hat, alles und jedes in ein elaboriertes Weltbild integrieren zu können.

Also lässt Galchen den Kranken erzählen. Das Übliche und Erwartbare wird dabei mit erheblicher Überzeugungskraft auf oft tragisch-witzige Weise verdreht, also der neuen Wirklichkeitssicht angepasst: Das Simulakrum heißt bald "meine neue Mitbewohnerin", dann "Doppelgängerin" oder schlicht "die Frau" mit "einstudiertem Remaismus", und Liebenstein bricht auf, um die "echte" Rema zu suchen.

Er verfolgt eine "hochrelevante" Spur: das Verschwinden seines Patienten Harvey unmittelbar vor dem Auftauchen des Simulakrums. Harvey glaubte, ein Geheimagent der Royal Academy of Meteorology zu sein, der einer Untergrundgruppe von 49 "Quantenvätern" das Handwerk legen sollte, die in Parallelwelten meteorologische Experimente durchführen und das Wetter auf der Erde planmäßig verheeren.

Auf Anraten seiner Frau Rema hatte Liebenstein während Harveys Behandlung vorgegeben, per Telefon Anweisungen für seinen Patienten von Tzvi Gal-Chen, einem Meteorologen der Royal Academy, zu erhalten. Tatsächlich amüsierte sich am anderen Ende der Leitung Rema königlich, und desgleichen tat wohl die Autorin bei der Verballhornung ihres Namens.

Nach Remas erstem Anruf als Gal-Chen gleitet ihr Mann jedoch in die gemeinsam erfundene Parallelwelt, Harvey verschwindet und Rema wird durch das Simulakrum ersetzt. Nun sucht Liebenstein in Buenos Aires Remas Mutter auf und stellt sich als Tzvi Gal-Chen vor, um sie über Ehemann und Liebhaber ihrer vermeintlich verschwundenen Tochter auszuhorchen.

Dann trifft er in Patagonien, von Rema das "wilde, unwirtliche Unbewußte" des Landes genannt, überraschend Harvey. Gemeinsam warten sie auf einen Geheimauftrag der Royal Academy. Stattdessen erscheinen Remas Mutter und das Simulakrum, das Liebenstein zunehmend reizend findet ...

Der Roman wird von der geschlossenen Welt der Psychose strukturiert. Das ist nicht ohne dramaturgische Probleme, meist jedoch beunruhigend und fesselnd: Alles erweist sich als Fake, mal als Simulakrum, mal als Spiegelung.

Daher reist Liebenstein aus den USA über den Äquator als Spiegelachse nach Argentinien, das ihm Rema als Land der Verschwundenen, der Desaparecidos, mit der höchsten Psychiaterzahl pro Einwohner beschrieben hat; daher gleicht Remas Mutter ihrer Tochter und besitzt wie diese einen Hund; daher schlägt sich Tzvi Gal-Chen mit Dopplereffekten bei der Wettervorhersage herum - pardon: schlug sich, denn er ist, wie sich herausstellt, bereits vor Jahren verstorben.

Solche Misslichkeiten können Liebenstein allerdings nicht erschüttern, hat er doch mit Gal-Chen mehrere Emails gewechselt ... Ein vergnüglich-trauriger Roman mit optimistischem Ende über dem dünnen Firnis, der dieses Mal nicht Zivilisation, sondern "gängiger Realitätsbegriff" heißt.

Besprochen von Jörg Plath

Rivka Galchen: Atmosphärische Störungen
aus dem Englischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg 2010, 315 Seiten, 19,95 Euro