"Lebst du da in den Baracken, oder?"

Von Angelika Calmez · 22.01.2010
Wenn wir von Auschwitz reden, meinen wir meistens das Auschwitz der Nazis. Weltweit gilt der Name Auschwitz als Symbol für den Holocaust. Aber in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau finden Besucher auch ein Schild zur Synagoge und zum "Auschwitz Jewish Center": Auschwitz, oder auf Polnisch: Oświęcim, war einst eine zur Hälfte jüdische Stadt.
Lucyna Filip: "Das ist alles auf der Schreibmaschine geschrieben ..."
Jugendliche: "Hat man das hier nachträglich noch ein bisschen ... ?"
Lucyna Filip: "Nein, nichts ..."

Besuch im Archiv der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Hier arbeitet Lucyna Filip. Täglich gehen Akten jüdischer KZ-Häftlinge durch ihre Hände. Vom jüdischen Leben in der Stadt Auschwitz - oder auf Polnisch Oświęcim - hörte sie allerdings erst zu Beginn der 1990er-Jahre, von einer Dame in Israel.

"Auf jeden Fall, sie hat erzählt von Oświęcim, wie sie hier gelebt hat, von den Juden. Und ich habe damals gesagt: Welche Juden? Was erzählt sie überhaupt?"

Zurück in Oświęcim entdeckte die Historikerin: Der Teppichladen nahe der Pfarrkirche im Herzen der Stadt war einst eine Synagoge – die einzige, die die Nazis stehen gelassen hatten. In Archiven von Krakau bis Stockholm fand Lucyna Filip Dokumente über die jüdische Bevölkerung in Oświęcim. Sie belegte wissenschaftlich: 1938 wohnten mehr Juden als Katholiken in der Stadt! Heute lebt in Oświęcim nur noch ein Bruchteil der ursprünglichen Bevölkerung. Stadtspaziergang mit Stefan Solarczyk.

"Als Nachbarn hat man sich zusammengesetzt, gemeinsam und die Mütter kannten sich untereinander. Das war ein ganz normales Leben auch auf den Marktplätzen hat man sich hingesetzt oder irgendwo und hat man sich unterhalten. Das waren ganz normale und freundliche Beziehungen."

Stefan Solarczyk ist unter Historikern gefragt. Es gibt kaum noch Spuren der jüdischen Gemeinde. Wo einst die Mikwe stand, das jüdische Bad, befindet sich ein frisch angelegter Parkplatz. Das Stadtmuseum zeigt jüdisches Alltagsleben mit Objekten von auswärts: ein Schachbrett, eine Nähmaschine, Kultgegenstände. Und doch war die jüdische Gemeinde von Oświęcim bedeutend. Die Juden nannten ihre Stadt "Oshpitzin", oder sogar "Jerusalem". Es gab einen jüdischen Fußballverein und jüdischen Religionsunterricht in öffentlichen Schulen. Im Stadtrat saßen Vertreter verschiedener jüdischer Parteien. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Oświęcim noch zu Österreich-Ungarn gehört. In der Grenzstadt zu Deutschland und Polen hielt sogar die Eisenbahn.

"Die wirtschaftliche Situation Ende des 19. Jahrhunderts war relativ besser als in den anderen kleinen Städten in Galizien. Es gab viele Fabriken, die von lokalen jüdischen Geschäftsleuten aufgebaut wurden. Aber auch, was das politische, intellektuelle, kulturelle Leben betrifft: Da war Oświęcim zwar eine Kleinstadt, aber kein typisches Städtl. Das Niveau war sehr hoch."

Artur Szyndler hat die politischen Strömungen der Juden in Oświęcim erforscht. Der Historiker arbeitet im Jüdischen Zentrum in Oświęcim. Die Forschungs- und Kulturinstitution wurde im Jahr 2000 von einer Stiftung eröffnet und gehört heute zum New Yorker Museum of Jewish Heritage. Der Komplex aus historischen Gebäuden schließt die auch die Synagoge ein. Thomasz Kuncewicz, Direktor des Jüdischen Zentrums.

"Wir konzentrieren uns auf Bildung: jüdische Geschichte, Kultur und Erziehung zur Toleranz. Aber der Hauptfokus liegt auf der Erinnerung an die jüdische Gemeinde der Stadt. Durch das jüdische Museum, durch Ausstellungen. Bei der Eröffnung der letzten Ausstellung "Neues Leben" war auch eine Gruppe aus Israel da, mit Überlebenden und ihren Kindern. Es gab also wirklich so etwas wie eine erneuerte Verbindung zwischen Menschen mit Wurzeln in dieser Stadt und den Menschen, die heute hier leben."

In der Tat wirkt der auffallend frisch renovierte Komplex wie eine Insel der Lebendigkeit.
In der kleinen Industriestadt gibt es nicht einmal ein Kino. So bietet das jüdische Zentrum enorme kulturelle Bereicherung – und Impulse. Eine Anglistik-Studentin an der neuen Uni von Oświęcim führt Besucher durch die Räume. Viele historische Fotos und Alltagsgegenstände stammen von einem Bürger der Stadt. Umgekehrt überließ Artur Szyndler seine Interviews in Israel einer Schülergruppe. Die Jugendlichen drehten einen Film über die jüdische Stadtgeschichte. Dieses Projekt mit dem Titel: "Oświęcim: Fluch oder Glück?" haben die Pädagogen Wisław und Halina Świderski initiiert.

"Denn ich muss ihnen sagen, dass auch viele von unseren Schülern geniert waren, als ihnen die Frage gestellt wurde: Woher kommst du? Und das war nicht einfach zu antworten. Wieso, ich komme aus Oświęcim. Und dann kam sehr oft die Frage: Was? Aus Oświęcim? Ist da eine Stadt? Wieso, lebst du da in den Baracken, oder? Viele Polen fragen auch so blöd danach."

In Deutschland gilt Auschwitz als Synonym für den Naziterror. In Polen ist es Oświęcim. Wenn heute viele Auschwitz-Besucher ins Stadtzentrum kommen, ist dies auch ein Verdienst des jüdischen Zentrums. Die internationalen Gäste beleben die Cafés. Vor allem nehmen sie ein Bild der Stadt mit nach Hause. Im Schatten der Gedenkstätte zu leben, macht aber nicht automatisch toleranter. Auch daran dachten die Świderskis bei dem Filmprojekt.

"Wir fanden es wichtig, weil, man kann besser verstehen, was passiert ist, in Oświęcim, wenn man auch die Geschichte weiß. Also - von den 8000 Einwohnern, die vor dem Krieg in Oświęcim gelebt haben, dass die meisten dann in Auschwitz ums Leben gebracht wurden."

Rund 8000 Juden aus Oświęcim befinden sich unter der eine Million jüdischen Auschwitz-Opfer. Das ist annähernd die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt.

Kirchgängerinnen am Sonntagmorgen. Es ist ein Bild, fast wie aus der Vergangenheit: Pfarrkirche und Chevra-Lomdei-Mishnajot-Synagoge liegen friedlich einander gegenüber. Aber das politische Klima zwischen Polen und Juden ist empfindlich. Zwistigkeiten und Misstrauen standen lange im Vordergrund, häufig waren Vorgänge im Lager Auschwitz und in der Stadt der Zankapfel. Theologe Manfred Deselaers ist überzeugt, dass die Synagoge in Oświęcim wieder Vertrauen zwischen den Religionen aufbaut. Vor dem Krieg hätten die meisten Juden in Polen gelebt. Für ihre Nachkommen sei Polen viel mehr das Land der Schoa als Deutschland. Dies habe allerdings nichts mit polnischem, sondern mit deutschem Antisemitismus zu tun.

"Die ganze alte jüdische Kultur, jüdische Städte, Schulen – diese ganze Welt ist weg. Es gibt in Krakau- Kaziemierz, auch ein jüdisches Kulturfestival. Da gibt's ein jüdisches Zentrum, aber keine richtige jüdische Welt mehr. Und hier in Auschwitz ist besonders klar, warum es die nicht mehr gibt."

Nachdem Lucyna Filip Details über die Juden in Oświęcim veröffentlicht hatte, erhielt sie zahlreiche Zuschriften. Angehörigen und Nachkommen von Opfern hat sie die Namen von Freunden und Verwandten zurückgegeben, Überlebenden die Erinnerung.

"Andererseits profitieren andere Leute, nämlich die Stadt. Bis zu diesem Zeitpunkt es ist nichts geschrieben, einzelne Zeilen, das hab ich auch erwähnt. Durch dieses Buch ist es bekannt geworden, dass die Juden hier gelebt haben, dass es eine jüdische Gemeinde gab, eine wirklich aufblühende Gemeinde. Sie haben bedeutend das Leben der Stadt beeinflusst."