"Lebensmittelwirtschaft ist so betrugsanfällig"

Moderation: Patrick Garber · 09.03.2013
In der Nahrungserzeugung leiste sich Deutschland ein System mit vielen Schwachstellen und Interessenkonflikten, sagt Matthias Wolfschmidt von Foodwatch. Den Verbrauchern eine "Geiz-ist-geil"-Mentalität vorzuwerfen, sei eine beliebte Masche der Politiker.
Deutschlandradio Kultur: Heute reden wir Tacheles über das Essen, wobei ich allerdings nicht garantieren kann, dass es immer ganz appetitlich bleibt. Mein Gesprächspartner ist Matthias Wolfschmidt. Er ist stellvertretender Geschäftsführer von Foodwatch, jener gemeinnützigen Organisation, die sich seit gut zehn Jahren mit der Qualität von Lebensmitteln und den Rechten von Verbrauchern befasst. Guten Tag, Herr Wolfschmidt.

Matthias Wolfschmidt: Guten Tag, Herr Garber.

Deutschlandradio Kultur: Herr Wolfschmidt, ins Deutsche übersetzt bedeutet Foodwatch so etwa "Nahrungswacht". Sie nennen sich auch die "Essensretter". Ist das nicht ein bisschen alarmistisch? Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner wirft Ihnen ja vor, von der Skandalisierung zu leben.

Matthias Wolfschmidt: Da wir die Skandale nicht machen, sondern die Skandale ja offensichtlich ohne unser Zutun auftreten, können wir kaum die Skandalisierer sein. Wenn man die Debatten verfolgt, auch in den jüngsten Fällen, kann man ja eher den Eindruck haben, dass die Akteure auf der anderen Seite, sei es in Ministerien oder auch in der Lebensmittelwirtschaft, den Skandalbegriff so benutzen, dass es ausgerechnet in der Lebensmittelbranche überhaupt nie einen Skandal geben könnte. Man fragt sich, was in deren Augen einer wäre.

Uns wird auch von Seiten der Ministerin vorgeworfen, wir seien eine reine Spendensammelorganisation, auch das müssen wir hören. Da hat sie sogar in einer gewissen Weise Recht. Wir nehmen tatsächlich keine Steuergelder. Wir nehmen kein Geld von der Europäischen Union oder von der Bundesregierung, und auch kein Geld von der Lebensmittelindustrie. Wir sind auf Spenden angewiesen und auf unsere Mitglieder, die inzwischen ungefähr 25.000 zählen. Und darüber finanzieren wir unsere Arbeit.

Deutschlandradio Kultur: Skandale haben wir zurzeit ja wirklich genug im Lebensmittelbereich. Sie sind bei Foodwatch für Strategie und Planung von Kampagnen zuständig. Welche strategischen Schlüsse für Ihre Arbeit ziehen Sie jetzt aus den jüngsten Lebensmittelskandalen?

Matthias Wolfschmidt
Matthias Wolfschmidt© dpa / picture alliance / Soeren Stache
"Ehec-Krise wurde nicht überzeugend aufgeklärt"
Matthias Wolfschmidt: Wir haben ja in der Vergangenheit, in den vergangenen Jahren, immer wieder Gelegenheit gehabt, so absurde Themen überhaupt auch als Öffentlichkeit zur Kenntnis zu nehmen, wie Gammelfleisch. Wie haben gelernt, dass Dioxine in Futtermitteln ein großes Thema sind. Wir haben gelernt, dass es bei der Ehec-Krise vor inzwischen anderthalb Jahren ganz schwierig gewesen ist, überhaupt eine Ursache zu finden. Aus unserer Sicht ist die auch nicht überzeugend aufgeklärt worden.

Es zeigen sich aber insgesamt – so unterschiedlich die einzelnen Phänomene sich auf den ersten Blick ausnehmen – bestimmte Muster. Die haben damit zu tun, dass die Politik nicht das macht und die Lehren aus den Krisen oder Skandalen zieht, die sie ziehen könnte und müsste, wenn man das Problem wirklich an der Wurzel beseitigen wollte.

Deutschlandradio Kultur: Schauen wir uns mal die aktuellen Skandale genauer an. Da war zuerst das Pferdefleisch in der Lasagne, inzwischen auch woanders gefunden. Das stammt wohl zum großen Teil aus Rumänien und ist via Zypern, Holland und Frankreich auch in deutschen Produkten gelandet als angebliches Rindfleisch. Haben Etikettenschwindler auch deshalb so leichtes Spiel, weil Lebensmittel heutzutage zu viel in der Gegend herumtransportiert werden und man dadurch leicht den Überblick verliert?

Matthias Wolfschmidt: Ich würde gerne den Begriff des Etikettenschwindels von dem, was wir beim Pferdefleischskandal gesehen haben, trennen. Weil Etikettenschwindel im weitesten Sinne ja schon fast eine Verniedlichung ist und im weitesten Sinne für das, was wir legal an Täuschungen beim Einkaufen erleben, vielleicht anwendbar ist. Aber in dem Fall handelt es sich ganz klar um Betrugsfälle.

Und das Phänomen ist nicht nur, dass Pferdefleisch offenbar aus Rumänien über verschiedene Stationen nach Südfrankreich gegangen ist und dort offenbar, so sagen es die französischen Behörden, umetikettiert worden ist. Da wurde dann aus Pferdefleisch Rindfleisch. Und dieses Rindfleisch wurde bei einem Luxemburger Werk eines französischen Fertiglebensmittelherstellers offensichtlich mindestens über ein halbes Jahr lang in Fertigprodukte wie Lasagne und andere gefüllte Nudelprodukte eingemischt und an – und das ist die besonderer Pointe dieses Falls, in der Dimension hatten wir das noch nicht – Supermarktketten in Frankreich, in Großbritannien, in Deutschland und in einigen anderen EU-Mitgliedsstaaten ausgeliefert, die diese Ware als "Eigenprodukte", also als Eigenmarke vertrieben haben.

Und in ganz Europa will keine Supermarktkette bemerkt haben, dass man ihnen da vollkommen falsche Zusammensetzungen, also schlicht und ergreifend nicht verkaufsfähige Produkte untergejubelt hat. Das ist schwer zu glauben.

Lasagne im Labor: Fleischprobe im Veterinäruntersuchungsamt Rhein-Ruhr-Wupper, Krefeld
"Essen ist pferdig"? Lasagne wird im Labor untersucht.© picture alliance / dpa / Bernd Thissen
"Die niedersächsischen Behörden wussten seit einem Jahr Bescheid"
Deutschlandradio Kultur: Wäre es denn einfacher, Lebensmittelqualität zu gewährleisten, wenn die Produkte nicht kreuz und quer durch Europa gekarrt würden, sondern das, was in der Region verbraucht wird, auch aus der Region kommt?

Matthias Wolfschmidt: Das wäre zuweilen einfacher. Und tatsächlich ist unser Lebensmittelüberwachungssystem, das ja aus dem vergangenen Jahrhundert stammt, im Grunde in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts etabliert worden ist, da sicherlich besser drauf ausgerichtet, weil die Überwachung in den Landkreisen stattfindet.

Aber man muss sagen, der andere Skandal, der jetzt im Moment ein bisschen in Vergessenheit geraten ist, der weist ja darauf hin, dass wir auch mit relativ regional erzeugten Produkten Probleme haben. Da geht’s um die Umdeklarierung von Eiern, sei es nun Bodenhaltungseier, die als Freilandeier deklariert wurden, oder Freilandeier, die als Bio-Eier deklariert wurden. Es ging immer darum, mehr Gewinn zu erwirtschaften seitens derer, die diese Umdeklarierung vorgenommen haben, und das offenbar unter den Augen der Behörden. Denn nach allem, was man im Moment weiß, wussten die zuständigen niedersächsischen Behörden seit über einem Jahr Bescheid und haben diesem Treiben offenbar mehr oder weniger tatenlos zugesehen. Auch das ist eine Dimension von Skandal.

Deutschlandradio Kultur: Zu den Eiern kommen wir gleich noch. Halten wir erstmal fest: Regional an sich oder regionale Herkunft ist nicht unbedingt eine Garantie dafür, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Und bei der Pferdefleischaffäre, wo liegt denn der Schwarze Peter? Bei den Fleischhändlern, bei den Herstellern der Fertigprodukte? Bei der Lebensmittelkontrolle?

Matthias Wolfschmidt: Wenn man die Lage durchanalysiert, dann muss man einfach nach den unterschiedlichen Interessen fragen. Die Handelskonzerne hier in Deutschland, wie auch in Frankreich und in Großbritannien sagen: Wir sind allesamt betrogen worden. Wir sind Opfer eines Betruges. Da wurde in gewissen Phasen der Diskussion um diese Pferdefleischaffäre ja auch von organisierter Kriminalität, sogar mafiösen Strukturen gesprochen. Das halte ich für eine maßlose Übertreibung – bis zum Beweis des Gegenteils.

Denn das System der europäischen Lebensmittelwirtschaft ist so betrugsanfällig und es ist so wenig wahrscheinlich aufzufliegen, und es ist so vergleichsweise einfach, mehr Geld zu verdienen als einem zusteht, dass man eigentlich gar nicht organisierte kriminelle Strukturen braucht. Sondern es reicht einfach, ein gewisses Maß an Dreistigkeit und natürlich krimineller Energie, um offensichtlich so ein Geschäft aufzuziehen.

Und solange – und das ist das Entscheidende aus unserer Sicht – diejenigen, die uns die Ware am Ende verkaufen, noch dazu unter ihrem eigenen Namen, also die Handelskonzerne, sich schadlos halten können und selber die Unschuld vom Lande markieren können, werden die auch kein dezidiertes eigenes Interesse entwickeln, alles dafür zu tun, dass wirklich nur korrekte Ware in die Regale kommt und zum Verkauf angeboten wird. Und deswegen sind für uns – nicht allein selbstverständlich, weil, die haben ja offensichtlich nicht die Falschdeklaration vorgenommen – die Handelskonzerne hier dringend in die Pflicht zu nehmen. Nach derzeitiger Gesetzeslage ist das leider nicht möglich.

Deutschlandradio Kultur: Liegt es auch ein bisschen an den Verbrauchern, dass immer wieder solche Schwindeleien passieren, weil eben Geiz geil ist und wir für unser Essen möglichst wenig bezahlen wollen und auch nicht fragen, wie das denn angehen kann, dass das so billig ist?

Matthias Wolfschmidt: Also, zum einen muss man dazu sagen, prinzipiell muss jedes Lebensmittel, das zum Kauf angeboten wird, egal zu welchem Preis, allen gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Sonst darf es nicht zum Verkauf angeboten werden. Daraus ergibt sich schon, dass diejenigen, die die Ware zum Verkauf anbieten, zu allernächst Verantwortung zu tragen haben.

Zum Zweiten muss man die Frage stellen, wer von uns denn eigentlich in der Lage ist sich vorzustellen, was eigentlich zum Beispiel eine Fertiglasagne in der Produktion kosten muss, damit sie aus ordentlichen Rohstoffen mit ordentlichen Arbeitsbedingungen, mit einer ordentlichen Qualität hergestellt und dann auch uns zum Kauf angeboten werden kann. Die Margen, die der Handel jeweils auf die Produkte draufschlägt, kennen wir als Verbraucher nicht. Wir kennen auch nicht die Großhandelspreise – sei es für Fleisch oder für Teigwaren. Das ist alles gar nicht möglich, für einen Endverbraucher zu beurteilen, der nicht vom Fach ist.

Insofern muss man einfach sagen, dieser Vorwurf, Geiz sei geil und die Verbraucher würden ja nur das Billigste kaufen und deswegen selber Schuld sein, ist eine sehr beliebte und insbesondere bei Politikern sehr beliebte, man muss schon fast sagen, eine Masche, um sich selber aus der Verantwortung zu stehlen. Und zwar der Verantwortung, dass man bis heute offensichtlich nicht willens ist, ordentliche Rahmenbedingungen, gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Verbraucher auch vor Betrug, nicht nur vor Gesundheitsgefahren, sondern auch vor Betrug ordentlich schützen.

"Lebensmittelkontrolle: "Tausende von Stellen fehlen""
Deutschlandradio Kultur: Sie haben Skandal Nummer zwei schon angesprochen, die Millionen von Bio- und Freilandeiern, die gar keine sind. Hier wurde ja offenbar jahrelang im großen Stil systematisch betrogen. Und herausgekommen ist es eigentlich nur durch einen Zufall, weil ein Bauer sich verplappert hat. Haben wir zu wenig Kontrolleure, um so was zu bemerken? Oder kleben diese Kontrolleure zu sehr an ihren Schreibtischen, statt auch mal in den Betrieben nachzusehen, wie Frau Aigner, die Verbraucherschutzministerin, es angedeutet hat?

Matthias Wolfschmidt: Also, die Rolle der amtlichen Kontrollen wird bei jedem Lebensmittelskandal, der öffentlich wird, oder bei jedem größeren Problem, das öffentlich wird, sehr stark in den Vordergrund geschoben und gerät kurioserweise bei den verantwortlichen Politikern dann offensichtlich immer ganz schnell in Vergessenheit. Da geht’s natürlich um Planstellen für Personal. Da geht’s um Kosten. Da geht’s um Ausrüstung. Da geht’s um die Frage, welche Rechte haben die Kontrolleure, welche Pflichten auch der Offenlegung dessen, was sie überhaupt finden.

Faktisch ist es so, dass – wenn man genauer hinguckt, und das sagen ja auch die Lebensmittelkontrolleure – Tausende von Stellen offensichtlich fehlen in Deutschland. Faktisch ist es aber auch so, dass die Organisation der Lebensmittelüberwachung in Deutschland strukturell auf dem Niveau des letzten Jahrhunderts stattfindet. Damals war das vollkommen sinnvoll, weil, damals hatten wir eine weitgehend regionale Lebensmittelversorgung. Es gab halt die lokalen Schlachter. Es gab kurze Wege von den Produzenten zu den Konsumenten, vergleichsweise kurze Wege. Und da war es sinnvoll, auf Landkreisebene die Überwachung zu organisieren.

Heute klammern sich die Landräte und die Landkreise an diese Aufgabe. Das hat etwas mit Macht und Einfluss zu tun. Und es wird regelmäßig unter den Tisch gekehrt, dass es jede Menge Nachteile gibt, schon angefangen bei den Informationsbrüchen, die an jeder Landkreisgrenze stattfinden, bei der nicht einheitlichen Organisierung der Lebensmittelkontrolle auf Landesebene, die Länder sind ja zuständig von Gesetzes wegen, und bei möglichen Interessenkonflikten.

Davon erfahren wir immer mal wieder, dass ein Kontrolleur sagt, hier stimmt was nicht, hier müssen wir vorgehen, hier muss ein Bußgeld oder eine Strafe verhängt werden. Und dann aber offenbar politisch in den Landkreisen entschieden wird, eine Strafe nicht in dem Maße oder gar nicht oder später zu verhängen, weil es um Arbeitsplätze, um Gewerbesteuern und dergleichen mehr geht. Wir leisten uns ein System, bei dem es jede Menge an Schwachstellen gibt, inklusive jede Menge an Interessenkonflikten.

Deutschlandradio Kultur: Der Vorsitzende des Bundesverbands der Lebensmittelkontrolleure hat ja kürzlich gesagt, und das geht ein bisschen in die Richtung dessen, was Sie gerade angedeutet haben: Die Länder und die Kommunen schützten im Zweifelsfall lieber die heimische Wirtschaft als dass sie wirklich ganz genau den Dingen auf den Grund gehen würden. Das bestätigen Sie aus Ihren Erfahrungen?

Matthias Wolfschmidt: Wir haben natürlich nicht die unmittelbaren Erfahrungen wie die Lebensmittelkontrolleure, aber aus dem Munde des Vorsitzenden des Bundesverbands der deutschen Lebensmittelkontrolleure ist diese Feststellung umso ernster zu nehmen.

Was die Lebensmittelkontrolleure aber noch nicht stark genug machen, ist, dass die Kontrolle, und eine ordentlich organisierte, möglichst interessenskollisionsfreie, also, wirklich dem reinen Verbraucherschutz gewidmete und der reinen Überprüfung, ob die Lebensmittelwirtschaft sich an die gesetzlichen Vorgaben hält, gewidmete Lebensmittelüberwachung nur ein Teil eines verbesserten Verbraucherschutzes ist. Denn der zweite Teil ist, dass diese Ergebnisse, die Kontrollergebnisse dann auch veröffentlicht werden müssen.

Sie laufen strukturell als Kontrolleur tendenziell allen Ereignissen hinterher. Irgendwo, an irgendeiner Stelle geschieht ein Betrug oder wie auch immer und die Aufdeckung kann man nur mit gewissen Wahrscheinlichkeiten organisieren. Hundert Prozent Aufdeckungsquote wird’s nicht geben.

Und wenn man dann aber das, was man weiß als Behörde, nicht öffentlich macht bei einem Verbrauchsgut, dem wir alle nicht ausweichen können, wir sind nun mal 82 Millionen, die genau hier beim Lebensmittel nicht streiken können, das wäre eine ganz fatale Strategie, die wir mit unserem Leben bezahlen würden am Ende. Wenn man hier also nicht sagt, die Öffentlichkeit hat ein Anrecht darauf, grundsätzlich über jeden Schmu und jeden Betrug informiert zu werden und als Signal in die Branche gibt: Wer sich nicht ordentlich verhält, der muss dafür auch öffentlich geradestehen – dann muss man sich nicht wundern, wenn sozusagen die Neigung zu Lügen und Betrügen relativ ausgeprägt ist, weil sie sich lohnt – letztlich auch betriebswirtschaftlich lohnt.

Deutschlandradio Kultur: Herr Wolfschmidt, was Sie gerade angesprochen haben, soll jetzt ja wohl teilweise in das neu gefasste Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch hineingeschrieben werden. Frau Aigner, die Verbraucherschutzministerin, hat gesagt, es sollen jetzt auch die Namen von Nahrungsmittelproduzenten, die getäuscht haben, veröffentlicht werden, was bisher nicht der Fall war. Reicht Ihnen das an Transparenz?

Matthias Wolfschmidt: Das hat, seitdem es die so genannte Transparenzgesetzgebung im Lebensmittelbereich gibt, also, seit etwa sechs Jahren, noch jeder amtierende und jede amtierende Bundesverbraucherministerin gesagt. Das wird auch regelmäßig von den Länderverbraucherministerien gesagt.

Wir haben es jetzt gerade beim Pferdefleischskandal erlebt: Es funktioniert nicht. Die gesetzlichen Vorgaben, und das wird auch im Gesetzgebungsprozess regelmäßig von Foodwatch, aber auch von den Lebensmittelkontrolleuren, teilweise auch von Ländervertretern vorgetragen, die gesetzlichen Vorgaben reichen nicht aus. Die sind so konstruiert, in dem Fall ist es ein Paragraph 40 im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, dass sie in der Praxis quasi nicht anwendbar sind. Im Moment gibt’s dazu wahnsinnig viele gerichtliche Auseinandersetzungen. Wenn die Behörden sagen, wir agieren im Sinne der Verbraucher, wehren sich die Lebensmittelunternehmen im Moment sehr erfolgreich vor Gericht gegen Veröffentlichung.

Frau Aigner hat jetzt mit der Regierungsmehrheit im Deutschen Bundestag eine Veränderung im Lebens- und Futtermittelgesetzbuch eingebracht, die – und das ist die absurdeste Pointe, die mir seit langem untergekommen ist im Gesetzgebungsprozess – vor einem Dreivierteljahr außer Kraft gesetzt wurde bei der letzten Novelle der Informationsgesetze, und zwar wegen Wirkungslosigkeit genau in diesem Fall der Veröffentlichung von Täuschungs- und Betrugsfällen, die den Behörden bekannt sind. Und die wird jetzt als Lösung des Dilemmas, dass bei dem Pferdefleischskandal die Behörden ihr Wissen nicht an die Öffentlichkeit geben durften, angeboten.

Da fragt man sich, ob die Bundesregierung tatsächlich im Sinne der Allgemeinheit, wie es ihr obliegt, im Sinne des Allgemeinwohls aller Bürger dieser Republik agiert oder letztlich den Lügnern, Betrügern und Täuschern helfen möchte.

Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner posiert auf der Grünen Woche in Berlin neben einer Plastikkuh.
Ilse Aigner posiert auf der Grünen Woche in Berlin mit einer Plastikkuh.© picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
"Von maximaler Transparenz profitieren die ehrlichen Unternehmen"
Deutschlandradio Kultur: Wenn es so wäre: Haben Sie eine Vorstellung, warum die Bundesregierung so handelt, wie sie handelt?

Matthias Wolfschmidt: Man kann es sich eigentlich nur so erklären, dass im Parlament oder auch im Regierungslager immer noch nicht angekommen ist, dass es einerseits nur dann besser werden wird und auch finanzierbar werden wird, eine vernünftige Lebensmittelüberwachung zu organisieren, wenn die gesetzlichen Grundlagen so eindeutig sind, dass sowohl die Behörden genau wissen, woran sie sind und was sie zu tun haben, als auch die Lebensmittelwirtschaft.

Auf dem Papier gibt es, was die Verpflichtung der Lebensmittelwirtschaft anlangt, jede Menge guter Gesetze. Aber was die Durchsetzung dieser guten Gesetze anlangt, sind allein die Nationalstaaten in der Europäischen Union verantwortlich. Und da muss man sagen, in Deutschland ist bis heute offensichtlich noch nicht ein Denken angekommen, das sagt: Wir können den Markt nur dann vernünftig regulieren, wenn wir mit maximaler Transparenz ein intelligentes Präventionsinstrument haben, bei dem einfach alle profitieren, nämlich es profitieren ja auch alle ordentlichen und ehrlichen Unternehmen.

Deutschlandradio Kultur: Wir waren skandalmäßig gerade bei den Bio-Eiern stehengeblieben, die keine waren. Ist in diesem Fall vielleicht die Bio-Branche auch Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden, dass eben die Nachfrage nach Bio-Produkten so rasant angewachsen ist, dass man mit dem Einhalten der eigenen Kriterien gar nicht mehr nachkommt?

Matthias Wolfschmidt: Wir haben einen Bereich mit der Bio-Branche, der in den vergangenen fünf bis sechs Jahren im Unterschied zu fast allen Sektoren in der Ernährungswirtschaft gewachsen ist. Wachstum ist im Ernährungsbereich sehr, sehr schwierig, weil zumindest in der historischen Situation, in der wir uns in Westeuropa befinden ‒ bei stagnierenden Bevölkerungszahlen und bei der glücklichen Situation, dass wir alle genug zu essen haben ‒, es kaum möglich ist, mengenmäßig zuzulegen für die Wirtschaft, so dass die permanent nach Strategien suchen, wie sie halt einen etwas größeren Marktanteil, und sei es auch nur im einstelligen%bereich bekommen können.

Und Bio versprach in der vergangenen Jahren tatsächlich Wachstumsmargen, dann auch Gewinnmargen. Deswegen war es sehr attraktiv für viele Akteure, in diesen Bereich zu gehen. Gleichwohl ist es immer noch ein winzig kleiner Marktbereich. Wir sprechen von vier bis fünf Prozent Marktanteil. Bei Eiern liegt der Marktanteil bei etwa sieben bis acht Prozent. Aber gemessen am konventionellen Markt ist das immer noch sehr klein.

Trotzdem sehen wir, dass in einem solchen Bereich – und das ist das eigentlich Interessante bei diesem Phänomen –, der eigentlich vergleichsweise leicht zu überwachen sein sollte, zumal es da Kontrollinstrumente gibt, die weit darüber hinausgehen, was in der konventionellen Landwirtschaft und die Lebensmittelwirtschaft Usus ist, dass da aufgrund der Möglichkeit, mehr Geld zu verdienen, es immer noch relativ einfach möglich zu sein scheint zu betrügen.

Das ist ein Hinweis darauf, dass wir strukturell umdenken müssen. Was die Transparenz anlangt, ist die ökologische Lebensmittelwirtschaft keinen Deut besser als die konventionelle. Die Kennzeichnungsregeln sind die gleichen. Die Strukturen sind teilweise, wenn man auf diese Basisqualität von Bio auf dem Level der Europäischen Öko-Landbauverordnung guckt, sehr eng miteinander verwoben. Das ist den Endverbrauchern nicht klar, soll ihnen auch nicht klar gemacht werden. Und deswegen nimmt es auch nicht Wunder, dass aufgrund der ökonomischen Anreizsituation, mehr Geld zu verdienen, weil die Leute ja mehr Geld ausgeben für die Produkte als für konventionelle vergleichbare, da auch zu betrügen.

Und offensichtlich ist die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, nicht sonderlich groß. Denn dieser Fall ist ja nur durch einen Zufall ins Rollen gekommen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Wolfschmidt, wir haben bisher über Betrugsfälle gesprochen – Rindfleisch, das vom Pferd stammt, Bio-Eier aus Massentierhaltung. Hier bekommt der Verbraucher nicht das, wofür er bezahlt hat, aber wenigstens wird seine Gesundheit nicht gefährdet, soweit wir das jetzt wissen. Wir müssen aber noch über den Skandal Nummer drei reden: Tierfutter, das mit krebserregenden Schimmelpilzen belastet ist. Und die reichern sich ja bekanntlich in Fleisch und Milch der Tiere an, die das Futter gefressen haben. Die Behörden sagen, keine Gefährdung für den Konsumenten. Dürfen wir darauf vertrauen?

Matthias Wolfschmidt: Im aktuellen Fall wohl schon. Sie reichern sich auch nicht an. Sie werden ja tatsächlich verstoffwechselt, wenn Sie so wollen. Die Leber der Tiere wird in Mitleidenschaft gezogen durch die hoch belasteten Futtermittel. Ob sie akut gefährdet ist, müsste man sich anschauen. Das müssen die Veterinäre tun. Da kann ich natürlich nichts darüber sagen.

Aber es ist tatsächlich so, wie Sie sagen, dass – insbesondere, was die Milch anlangt – relativ viel von diesen Pilzgiften auch in der Milch landen. Und da gibt es eine Gefahr. Die Behörden sagen, in den aktuellen Fällen seien die zulässigen Höchstwerte nicht überschritten worden von diesen Aflatoxinen, so wie diese Pilzgifte ja heißen. Und darauf müssen wir vertrauen. Und wir hoffen natürlich auch, dass dem so ist. Aber was man aber sagen muss fürs Lebensmittelrecht, und da gehört das Futtermittel dazu, ist, dass das zentrale Prinzip im europäischen Lebensmittel- und Futtermittelrecht lautet: vorsorgender Gesundheitsschutz. Wir müssen Maßnahmen ergreifen, die das Risiko einer gesundheitlichen Gefährdung so gut als möglich minimieren.

Und bei Substanzen wie Pilzgiften, die man niemals völlig ausschließen kann ‒ deswegen gelten sie rechtlich als unerwünschte Stoffe ‒, muss man sagen: Die Futtermittelwirtschaft muss dafür sorgen oder muss offensichtlich dazu gezwungen werden, alles zu tun, damit solche Substanzen wie Pilztoxine, aber auch wie Schwermetalle, wie Dioxine, wie Pestizidrückstände so gering als irgend möglich in den Futtermitteln überhaupt nur ankommen, weil sie dann auch nur geringstmöglich in Lebensmitteln landen.

Und da haben wir in der Vergangenheit ja ein paar Beispiele gehabt, Stichwort Dioxine in Futtermitteln, wo die Politik versprochen hat, es besser zu machen, wo Foodwatch kritisiert hat, dass das alles nicht ausreicht, dass es auch ablenkt strukturell von dem wesentlichen Punkt. Und leider ist das jetzt wieder eingetroffen.

Wir können dem jeweiligen Futtermittelhersteller oder auch dem Importeur des Mais nicht nachweisen, zu welchem Zeitpunkt er davon gewusst hat, dass die Ware nicht den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Der Mais war definitiv zu hoch belastet.

Deutschlandradio Kultur: Was müsste da anders sein, damit man es nachweisen kann?

Matthias Wolfschmidt: Man muss tatsächlich die Futtermittelwirtschaft und ihre Lieferanten verpflichten, dass sie, sobald eine solche Zutat, so nenne ich den Mais mal, angeliefert wird, unmittelbar entsprechende Proben nehmen muss in der Charge. Das kann man genau festlegen, da gibt’s auch relativ viele genaue Vorschriften für die Probennahme. Und diese Ergebnisse dann zu dokumentieren, um gegenüber der Behörde von sich aus nachzuweisen, dass die jeweilige Charge in Ordnung ist und dadurch handelbar.

Wenn wir das vorgeschrieben haben würden, könnten sich die Behörden an die Mischfutterhersteller wenden und sagen, was ist das eigentlich für eine Zutat, die ihr da eingemischt habt. Und dann kann der Mischfutterhersteller sich an seinen Lieferanten wenden und sagen, das war hier nicht korrekt und du musst dafür haften. Dann hat man aber ein stärkeres Anreizsystem, dass nur korrekte, ordentlich Zutaten überhaupt verwendet werden.

Frei laufende braune Hühner auf einer Farm in Niedersachsen
Frei laufende Hühner auf einer Farm in Niedersachsen© picture alliance / dpa / Holger Hollemann
"Was wir brauchen, sind wirksame Strafandrohungen"
Deutschlandradio Kultur: Anreize sind das eine, Sanktionen das andere. Brauchen wir dort nicht härtere Strafen für Verstöße gegen das Lebensmittel- und Futtermittelrecht?

Matthias Wolfschmidt: Was wir brauchen, sind wirksame Strafandrohungen. Was in Deutschland ganz offensichtlich fehlt, in einigen anderen Staaten gibt’s das längst, sind Unternehmensstrafen. Da geraten ja einige Begriffe sehr durcheinander. Die einen reden von Gewinnabschöpfung, von Unrechtsgewinnen. Das kann man machen.

Das bedeutet aber nur als Signal: Okay, wenn ich erwischt werde, muss ich das, was ich da unredlicherweise mir in die Taschen gesteckt habe, dann wieder abgeben. Das ist keine echte Bestrafung. Sondern was wir tatsächlich brauchen, sind Strafandrohungen, die in der Praxis dann auch anwendbar sind, bei denen ein Unternehmen betriebswirtschaftlich empfindlich getroffen werden kann.

Will sagen: Ein Futtermittelunternehmen, das 500 Millionen Euro Jahresumsatz macht, muss gewärtigen, dass in so einem Fall, wie bei dem aflatoxinkontaminierten Mais, eine Strafe fällig wird, die im Millionenbereich liegt. Ein Lebensmittelhandelskonzern, der zehn Milliarden Euro Jahresumsatz macht, muss gewärtigen, dass er vielleicht 50 Millionen Strafe bezahlen muss dafür.

Deutschlandradio Kultur: 50.000 Euro ist jetzt wohl die Höchststrafe.

Matthias Wolfschmidt: Die Höchststrafe ist 50.000. Und beim Pferdefleischskandal ist es so, dass ja die Behörden nicht mal davon ausgegangen sind, dass auch nur ein Handelsunternehmen mit einem Bußgeld von bis zu mindestens 350 Euro belegt werden würde, was einfach die Absurdität zeigt. Da ist der Anreiz, dafür zu sorgen, dass die Ware wirklich in Ordnung ist, relativ gering.

Wir müssen davon weg. Wir kennen aus anderen Rechtsgebieten, wie zum Beispiel aus dem Kartellrecht, ja Strafen. Wenn es eben auch zum Nachteil der Verbraucher, zum wirtschaftlichen Nachteil der Verbraucher Preisabsprachen gab, werden Unternehmen mit Strafen, auch im zwei- oder auch mal dreistelligen Millionen-Euro-Betrag, bestraft. Und dahin sollte die Reise gehen. Dann haben wir eine andere Situation.

Deutschlandradio Kultur: Herr Wolfschmidt, von Hause aus sind Sie Tierarzt. Ihr Spezialgebiet ist die Haltung und Fütterung von Nutztieren. Mit diesem Background und Ihren Erfahrungen bei Foodwatch, können Sie noch mit gutem Gefühl ein Stück Fleisch in die Pfanne hauen?

Matthias Wolfschmidt: Das kann ich schon. Und ich habe auch keine Garantie, das gilt, glaube ich, für ganz viele Kollegen, die in der Überwachung tätig sind, keine Garantie, dass ich das richtige Stück Fleisch ausgesucht habe, was mit vielen, auch ganz allgemeinen gesetzlichen Defiziten zu tun hat. Denn die Möglichkeit, Qualität objektiv zu beurteilen und als Endverbraucher wirklich nachzuverfolgen, die ist von Gesetzes wegen bis heute nicht vorgesehen.

Es gibt deswegen ja fast ausschließlich einen Preiswettbewerb. Und ich hatte erst vor einigen Tagen ein Gespräch mit Italienern, die sagten: Wir können in Italien in Supermärkten eigentlich gar nichts Vernünftiges kaufen. Das geht alles über Mund-zu-Mund-Propaganda. Jemand in der Familie kennt jemanden, kennt einen Schlachter, der gute Sachen hat. Ein bisschen so eine Situation haben wir hier in Deutschland auch, wobei die Schlachter immer seltener werden. Also, auch für alle Foodwatcher und alle Lebensmittelkontrolleure und Fachleute ist es schwierig, sich drauf zu verlassen, dass das, was man zum Kauf angeboten hat, wirklich Qualität darstellt.

Deutschlandradio Kultur: Na Mahlzeit. Vielen Dank für das Gespräch.
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