Leben, Tod und Hoffnung im Slum

Von Sabrina Matthay · 10.02.2013
Die Armen begehren selten gegen die Reichen auf, obwohl sie in der Mehrheit sind. Woran liegt das? Dieser Frage geht die Journalistin Katherine Boo in ihrem Buch über das Leben im Slum nach. Und sie bietet auch eine Antwort, warum die Armen nicht solidarisch sind - die ist allerdings anfechtbar.
Nichts ist Fiktion, doch dieser Bericht aus einem indischen Slum in Mumbai fesselt wie ein Roman, die Figuren sind lebendig wie Filmhelden:

"'Geh jedem Ärger aus dem Weg.' Das war Abdul Hakim Husains oberste Handlungsmaxime, an diesem Prinzip hielt er so verbissen fest, dass man es ihm regelrecht ansehen konnte. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen, die Wangen waren eingesunken, sein drahtiger Körper von der Arbeit gekrümmt – er war der Typ, der sich auf den Slumwegen durch das Menschengewimmel fädelte, ohne auch nur so viel Raum zu beanspruchen, wie ihm eigentlich zustand."

Armut ist seit mehr als zwanzig Jahren Katherine Boo's zentrales Thema. Das erste Buch der preisgekrönten amerikanischen Journalistin kreist um die Frage, warum das Nebeneinander von Reich und Arm so selten in ein Aufbegehren der Unterprivilegierten mündet.

"Schließlich gibt es mehr arme als reiche Leute in den Mumbais dieser Welt. Warum implodieren unsere ungleichen Gesellschaften nicht viel öfter?"

Auf der Suche nach einer Antwort hat sie dreieinhalb Jahre lang in Annawadi recherchiert, mit 335 Hütten und 3000 Einwohnern ein relativ übersichtliches Elendsviertel am Flughafen der indischen Film- und Finanzmetropole. So mancher ernährt sich hier von Ratten – und träumt trotzdem vom Aufstieg:

"Seit Indien prosperierte, waren die alten Vorstellungen, dass man das Leben so anzunehmen hatte, wie die eigene Kaste und die eigenen Götter es vorgaben, mehr und mehr dem neuen Glauben gewichen, man könne sich auf Erden einfach neu erfinden."

Der unscheinbare Abdul Hussain hat seine Familie jedenfalls mit Müllhandel vergleichsweise wohlhabend gemacht. Doch der Wunsch nach einer schöneren Küche wird zum seinem Ruin. Während der Renovierung beginnt der Streit mit einer Nachbarin:

"'Wenn du nicht sofort aufhörst, mein Haus zu zerkloppen, du Mutterficker, dann reit ich dich voll in die Scheiße', schrie Fatima."

In einem bizarren Racheakt setzt die verkrüppelte Frau sich selbst in Brand und überlebt lange genug, um die Husains der Tat zu beschuldigen. Deren Erfahrungen mit der indischen Justiz, mit deren Gleichgültigkeit und Korruption, beschreibt Katherine Boo so minutiös wie nüchtern.

Wie die Familie zurück auf Null geworfen wird, dürfte selbst Zyniker zu Tränen rühren - auch wegen der Kaltschnäuzigkeit, mit der die Annawadianer einander begegnen. Etwa Asha, die zum Slumlord aufsteigen will:

" …wenn sie erst mal echte Kontrolle über den Slum hätte, könnte sie selbst Probleme schaffen, um sie dann zu lösen. (Ein äußerst einträgliches Vorgehen, wie sie durch die Beobachtung des Bezirksrats gelernt hatte.) Schuldgefühle waren ein Bremsklotz für effektives Arbeiten in den Geheimkanälen der Stadt und nach Ashas Ansicht der reine Luxus."

Die Armen fallen einander in den Rücken. So beantwortet Katherine Boo ihre Ausgangsfrage, wie starke wirtschaftliche Ungleichheit auf Dauer nebeneinander existieren könne. Ihre Schlussfolgerung ist allerdings anfechtbar.

"Falsche staatliche Prioritäten und den marktwirtschaftlichen Imperativ" macht sie für die mangelnde Solidarität der Slumbewohner verantwortlich. Aber auch die indische Mittelschicht zieht den kurzfristigen persönlichen Vorteil jederzeit dem Gemeinwohl vor, selbst wenn dieses sich auf lange Sicht individuell auszahlen würde.

Zudem ist Mumbais Armut kein Phänomen der jüngsten Zeit, Elendsviertel wucherten lange vor der wirtschaftlichen Liberalisierung in Indiens Metropolen. Mit dem Unterschied, dass dort damals trostloser Stillstand herrschte. Die vielgescholtene Marktwirtschaft hat dagegen schätzungsweise 200 Millionen Inder in den Mittelstand gehoben.

Indiens Arme werden auch nicht von Staats wegen klein gehalten. Sondern es ist die Korruption, – von Boo so eindrucksvoll beschrieben - die die vielen Maßnahmen zur Linderung ihres Elends konterkariert.

Dennoch: Katherine Boo erzählt eine fesselnde Geschichte und zwar ohne in wohlfeile moralische Empörung zu verfallen. Nicht zuletzt ihre elegante Prosa verleiht diesem Buch seine literarische Kraft.

Davon geht in der deutschen Fassung allerdings einiges verloren - nämlich wegen der Übersetzung. Unangenehm ist auch die ungehobelte Umgangssprache, mit dem die Dialoge der Annawadianer einen betont proletenhaften Anstrich erhalten, auf den die Autorin im Original verzichtet.

Katherine Boo's brilliantem Bericht über "Leben, Tod und Hoffnung in einem indischen Slum" hätte man eine gute Übersetzung gewünscht. So empfiehlt sich die Lektüre des amerikanischen Originals.

Katherine Boo: "Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
übersetzt von Pieke Biermann
Droemer Knaur Verlag, München 2012
352 Seiten, 19,99 Euro
LESART: Cover Katherine Boo "Annawadi"
Katherine Boo "Annawadi"© Droemer Verlag