Leben im Alter

Der Gummibaum hat ein gelbes Blatt

Eine Seniorin in einem Pflegeheim in Frankfurt an der Oder
Eine alte Frau in einem Seniorenheim © dpa picture alliance / Patrick Pleul
Von Christine Werner · 27.09.2015
Sie ist 93 Jahre alt – und lebt in einem Altersheim. Rose Refardt erzählt, wie sich müde Knochen, Sehschwäche und Einsamkeit anfühlen. Unsere Reporterin hat ihr zugehört.
Wir wissen: Es wird mühsam sein, wenn wir erst einmal alt sind. Wir werden langsam, gebrechlich, vergesslich, einsam sein. Unser Radius wird immer kleiner werden, die Freunde immer weniger. Theoretisch wissen wir das alle. Aber wie fühlt sich das an, wenn es soweit ist?
Christine Werner wollte es genau wissen und hat sich auf das Sofa einer 93-Jährigen gesetzt, die im Altersheim lebt. Dort ist sie über mehrere Tage sitzen geblieben, hat zugehört und beobachtet. Herausgekommen ist eine Reportage, die das Alter nicht erklärt, sondern es erlebbar macht.

Christine Werner: "Es hat mich wirklich tief beeindruckt, mit welcher Würde und Ausdauer Frau Refardt diesen täglichen Kampf um Eigenständigkeit führt. So vieles fällt ihr schwer, aber sie versucht es hinzukriegen. Sie geht nicht den einfachen Weg und bestellt das Essen die ganze Woche, sie kocht an einigen Tagen selbst. Sie gibt sich trotz der Mühen und Hindernisse nicht auf. Das fand ich toll."
Christine Werner
Christine Werner© privat

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Manuskript der Sendung:
"Sehen Sie, das Aufstehen, ahh ... jetzt muss ich mal sehen, wo ich meinen Rollator habe. Ich war in der Küche, da steht er doch wohl nicht mehr. So was Blödes, was. ... och ... hier ist er doch. So groß ist die Wohnung ja auch nicht, dass man den übersehen kann."
Rose Refardt stemmt sich aus dem schwarzen Ledersessel. Sie findet ihren Rollator. Eine kleine, schmale Frau, der obere Rücken gekrümmt, an einem sperrigen, schwarzen Fortbewegungsgerät.
"Ich muss mich immer festhalten. Wenn ich breitbeinig stehe, geht es und ich habe, den Dings da, oft gehe ich auch ohne Wagen. Aber da muss ich ziemlich gebückt laufen, schauen sie. Gebückt. Jetzt kommt die Sonne, immerzu. Es fängt morgens an, da habe ich sie aufgehen sehen und dann habe ich hier gesessen, war alles schon mit Sonne. Ich mach mal die Tür ... ahhh."
Vom linken Rand der großen Fensterfront fällt Sonne ins Zimmer. Morgens tauchen die Strahlen die Essecke in ein warmes Licht.
"Halb sieben stehe ich auf, aber wenn man alt wird, ist man so langsam. Gucke ich auf die Uhr bis ich fertig bin drüben, ist es fast acht. Oder zehn nach acht. Dann habe ich aber mein Bett nicht gemacht, ich mache ja alles noch selber. Bett nicht gemacht, kein Frühstück gemacht, das mache ich auch, mit dem Tablett das stelle ich dann da drauf. Und Kaffee schwappt meistens über …."
Auf der Ablage des Rollators muss sie die Kaffeetasse aus der Küche zum Esstisch transportieren. Ein Balanceakt - jeden Morgen.
"… muss ich zweimal laufen, das schwappt über. Wenn ich mit dem Ding … kann ich nicht machen. Muss ich erst das rein tun, dann muss ich was holen. Und da einschenken und dann wieder zurück bringen. Solche Sachen, die fallen einem nur auf, wenn man es braucht."
Alles ist mühsam, auch das Anziehen.
"Ich habe ein Hemd mit schmalen Trägern und weil ich je sowie so schief bin, ist ein Knopf den ich oben zumachen wollte, weil das rausguckte hier. Ich habe es nicht fertig gebracht, ich habe mindestens eine Viertelstunde vor dem kleinen Spiegel im Flur gestanden und versucht den Knopf da vorne, den Knopf, da guckte immer der Träger raus, habe ich nicht fertig gebracht. Habe ich versucht mit allen Mitteln, gucken sie mal die Finger an, wie ich das Loch gefunden habe, da habe ich wieder den Knopf nicht gehabt. Also, verrückt, so ein Ärger hat man da, das ist doch hirnrissig eigentlich. Dann habe ich es aufgemacht, habe alles über den Kopf gezogen und es weg gehängt."
"Morgens sehe ich schon, wenn die Sonne aufgeht"
Mit 15 Jahren kam sie nach Baden-Baden, wohnte zuerst mit den Eltern und Geschwistern in einer Wohnung in einem der stattlichen Häuser in der Innenstadt. Später mit ihrem Mann, der Tochter und einem Pudel im Eigenheim mit Garten - stadtnah, viel Grün drum herum. Heute, mit 93, lebt sie in einer Anlage für betreutes Wohnen, Haus Vier.
"Morgens sehe ich schon, wenn die Sonne aufgeht. Im Osten kämpft sie mit dem Nebel. Aber sie kam dann. Sonne ist immerzu da, ich muss den Vorhang zu machen, so heiß wird das hier. Die anderen, Haus Drei, hat das nicht so. Aber das konnten wir allen nicht wissen und außerdem ist das Haus Vier ja das schönste mit, Haus Drei ist auch sehr schön, ja."
Eins - Rot, Zwei - Gelb, Drei – Blau, Vier - Grün: Grüne Briefkästen, eine grüne Klingelreihe und grüne Schilder weisen den Weg zu Haus Vier - es steht leicht erhöht, in der hintersten Reihe der Anlage. Rose Refardt wohnt oben, im zweiten Stock, in der letzten Wohnung am Ende eines langen Flurs.
"Hier habe ich ja auch Möglichkeiten – ich kann die ganzen Flure ablaufen mit meinem Rollator, (lacht leicht) … nicht. Sie haben ja gesehen, der Weg ist ziemlich weit, das ist der weiteste Weg, das haben wir auch gar nicht berücksichtigt, wenn man jung ist oder jünger, das haben wir ja seit Jahren, wir wohnen seit 2000 hier, wir sind die Ersten, die in dieses Haus eingezogen sind."
Vier Zimmer, Küche, Bad – Wohnzimmer und Schlafzimmer sind relativ großzügig. Sie und ihr Mann wollten Platz haben für die eigenen Möbel. Möbel wie das schwere, alte Ehebett, das nebenan im Schlafzimmer steht. Die eine Hälfte des Betts bleibt abends leer. Ihr Mann ist 2005 gestorben, nach 62 gemeinsamen Jahren.
"Ich habe immer gehofft, dass mein Mann vielleicht zuerst geht, das heißt, wir haben gar nicht über so was nachgedacht. Erst nach dem Tod meines Mannes ist es mir auch nicht mehr so gut gegangen. Aber das ist schon lange her, das ist 05 gewesen, denken Sie all die vielen Jahre. Nee, und da ist man sehr alleine. Man hat niemand, dem man dauernd was vorjammern kann. Oder sagen kann was einen bedrückt, das kann man nur Freunden sagen und viele Freunde im Alter findet man auch nicht.
Und dann muss ich meine Tabletten nehmen. Ich habe sieben Tabletten, die ich nach dem Frühstück einnehme, die ich selber rauspellen muss. Obwohl meine Hände, schauen Sie es an, da können Sie richtig rein stechen. Ich hab kein Gefühl mehr drin und das ist so, als ob da alles hängen bleibt und klebt. Kein Gefühl mehr drin, gucken Sie mal den kleinen Finger, das habe ich heute das erste mal gesehen, da habe ich mich irgendwo gestoßen. Ja, schrecklich, nee. Und so ist das überall. Und die Hand die geht noch am besten, die Linke, heute geht es überhaupt, aber gestern war die vollkommen steif und die auch. Wie soll man jetzt da Frühstück machen, ist auch schon so eine Sache, Kaffee, Filter oder so was. Und deshalb bin ich hier in der Verpflegung, das wird vom Krankenhaus gesteuert, wie weiß ich nicht. Jedenfalls dreimal koche ich selber und viermal bestelle ich Essen.
Seit mein Mann nicht mehr da ist habe ich hier noch nie Kuchen oder was gebacken. [Knall] Und das wollte ich Ihnen zeigen, was praktisch ist, was meine Tochter mir mitgebracht hat, solche Sachen hier, das ist immer so für eine Person. Wenn man nur Gemüse haben will und das hier sind Hackfleischbällchen und da hat sie mir so zehn Stück mitgebracht und die sind luftdicht abgeschlossen, hier ist noch was anderes ... ja, Pullet Madras, das ist auch ganz gut, aber eben keine Kartoffel, kein Reis ist dabei. Und nachher esse ich irgend so was. Ich wollte das nicht, aber das haben sie mir geschenkt, mitgebracht. Hier ist der Teller drin - (Erklärung Mikrowelle)."
Frisches Gemüse und Obst wären gut, sie selbst kann es aber nicht mehr schneiden.
Die Hände, die Finger - steif durch Arthrose.
"Man trifft hier wenige Leute, mit denen man sich unterhalten kann"
"Was ist denn das? Ach, das ist ein Nagel! Da warte ich immer noch auf den Kalender, den die mir versprochen haben. Gucken Sie mal hier, das ist meine Enkelin, das sind eins, Zwei, Drei. Die Bilder habe ich nicht da, da habe ich nur den alten Kalender hingehängt. Da sitzt er im Boot."
In der Küche guckt ein leerer Nagel aus der Wand. Daneben hängt der Kalender aus dem alten Jahr. Selbstgebastelt mit Fotos. Die Tochter, drei Enkel und fünf Urenkel leben in Genf. Zwischen ihnen und Haus Vier liegen 416 Kilometer.
"Es gibt viele, die so das Alter erreichen, aber ob sie glücklich sind, weiß ich nicht. Man trifft hier wenige Leute, die so alt sind und mit denen man sich unterhalten kann. Wenige Ehepaare gibt es, aber die brauchen keine anderen, die sind für sich. Und haben auch dies und jenes wo sie zum Arzt müssen und so weiter, da hat man auch niemanden. Man darf nicht so alt werden, wenn man Kinder hat, die so weit weg wohnen, da muss man halt warten bis der nächste Geburtstag oder Ostern, Pfingsten oder sonst was kommt."
Später Vormittag, die Sonne ist in die Mitte der Fensterfront gewandert. Sie heizt den Raum auf und lässt Staubpartikel über dem Holzboden tanzen.
"(Vorhang raschelt) Sehen Sie, das geht gerade so ... ah, die Vorhänge, die waren auch teuer, du liebe Zeit. Wenn man die waschen lässt und dann tagelang ist da nichts mehr. Dieses Jahr lasse ich sie gar nicht waschen. So geht’s, ne, glaube ich. Ist ja auch kein Schutz, wir haben nicht mal einen Rollladen, die anderen haben Rollläden, die auch große Fenster haben, aber das geht da nicht, weil es zwei Türen sind."
Durch den Spalt zwischen den Vorhängen fällt das Licht auf eine Kommode aus hellem Holz. Die Oberfläche glänzt, zwei Kerzenständer stehen darauf, eine kleine Standuhr, daneben liegen das Brillenetuie und etliche voll gekritzelte Zettel. Zwischen Kommode und Wand, etwas eingeklemmt, steht ein spindeldürrer Gummibaum.
"Da gucke ich gestern, da ist jetzt alles gelb, gucken Sie mal an. Der ist jetzt 30, 40 ach fast 50 Jahre haben wir in unserem Haus gewohnt. Mein Mann war ja immer noch berufstätig und da hat der Gummibaum schon viele Ableger bekommen, für die Schule und andere Leute, die gerne den Gummibaum haben wollten, den habe ich aus Frankreich von einer Freundin bekommen, mitgebracht und jetzt sehe ich seit gestern, dass das alles gelb wird. Da unten ist ein kleines Gelbes und da oben auch noch ein kleines Gelbes, da neben dem auch noch, aber wieso das kommt plötzlich, der ist ja schon ewig hier, seit 2000 steht der hier und vorher war er im Haus. Ja …"
Ihr Mann war Oberstudiendirektor, sie selbst Lehrerin, es gab einen großen Freundeskreis – und sie waren viel unterwegs, haben die halbe Welt gesehen. Heute ist schon die Fahrt zum Frisör beschwerlich.
"Ich muss noch mal zum Frisör, da kommt niemand, da kommt die Putzfrau und da kommt die zum Einkaufen und die ist eingeteilt von der AWO, da muss ich mehr oder weniger ... Freitag, das ist auch nicht gesagt um wie viel Uhr ich mein Bad nehme, mit allem drum und dran, sondern wie die Zeit haben, die Schwestern. Ich habe sie neulich gefragt, ja so gegen zwölf, aber das ist ja wieder so, da kann ich wieder kein Essen bestellen. Da kommt schon wieder die, die mich behandelt, die Fußpflegerin. Und da ist der Hautarzt, 24. Alles montags. Montag ist kein schöner Tag für mich. Ach, da muss ich ja. Nee, die Putzfrau, die kommt da nicht."
"Mein Freundin hat einen Schlaganfall bekommen"
Die Putzfrau, die Einkaufshelferin, die Arzttermine – alles muss koordiniert werden. Das wöchentliche Bad am Freitag dauert etwa 15 Minuten, für sie füllt der Termin den ganzen Tag aus. Heute soll die kleine Wunde am Fuß versorgt werden.
"Die Füße sollen jeden Tag oder so was neu verbunden werden. Da muss ich ja da sein. Da liegen die ganzen Medikamente für die Füße, viel zu viel, da kann ich ja ewig dran machen. Aber ich muss das nehmen, schauen Sie sich das an, die habe ich da liegen, falls plötzlich jemand da rein kommt. Man weiß nicht die Zeiten. Ja.
(Geht durch Wohnung, spricht vor sich hin) – Ich hebe nix mehr auf jetzt, früher habe ich vieles aufgehoben. Ach, das wollte ich der Hildegard schenken, die hat sich schon gefreut, ich habe so eine Sammlung von Baden-Baden, was alles passiert ist hier und sie ist ja eine Baden-Badenerin und kennt alles, da habe ich gedacht ich mache ihr eine Freude, das habe ich gerade fertig gehabt, da höre ich, dass sie nicht mehr lebt." (Lässt sich in Sessel fallen)
Meine Freundin, meine Freundin die ich hier habe, schon seit Kindesbeinen an sozusagen, die hat einen Schlaganfall bekommen in ihrem Haus, wo kein Mensch außer ihr wohnt. Unten ist nur ein kleines Ladengeschäft. Und ist gefunden worden, wahrscheinlich nach Stunden, von ihrer Putzfrau, die kommt immer – und sie ist ins Krankenhaus gekommen, vielleicht eine Woche oder so, nicht mal, einmal umgebettet in ein schönes Zimmer und ist nicht wieder aufgewacht. Ist gestorben. Also traurig ist es. Ich habe gedacht, das schafft sie gut. Konnte gut laufen noch, kam immer und hat mich betütert, und war die Güte selber. So was, ja."
Sie ist noch übrig, sie hat alle überlebt. Ihren Mann, die Schwester, sowie die zwei Brüder – die beide nicht mehr aus dem Krieg zurückkamen. Mit Hildegard ist nun auch noch die letzte Freundin gestorben.
(Geraschel von Papier zwischen Wortfetzen) "Ich weiß nicht, was dass hier ist … Aha. … Hier habe ich geschrieben, Baden-Baden, Erinnerungen … Ach. So das war das. (Rascheln) Ach, ja, das ist interessant, das ist das … Eine Pflege im Minutentakt verhindern. Häusliche Betreuung …"
Für Hildegard hatte sie in einem großen, verknitterten Briefumschlag Zeitungsausschnitte gesammelt, auch Postkarten, Eintrittskarten und Fotos.
(Rascheln) "Starb in aller Stille? Ach du liebe Zeit ... 1860. Baden-Baden, ach ... (Papier raschelt, dann etwas Ruhe) .... so das war das. (Umblättern, kramen im Papier) Sonja Gräfin ... Bernadotte. Junges Glück in schwierigen Zeiten ... (Papier raschelt) - kommt noch mal was mit Erinnerungen … Ach, ah, hier."
Mit ihren Erinnerungen ist sie jetzt alleine. Da ist keiner mehr, mit dem sie sie teilen kann.
Auch von den Klassenkameraden auf dem alten Schwarz-weiß Foto lebt fast keiner mehr.
"Die armen Menschen denke ich immer. Es lebt wohl keiner mehr von meiner Klasse, außer der Monika. Hab’ ich die Brille. Vier sind durchgefallen, das ist auch sehr viel gewesen. Heute lassen sie ja alle durch. Die Monika, die hat sich ganz da hinten – hier guckt die Monika raus, das ist sie ja. Und das, das bin ich hier. Der war auch sehr nett. Der ist auch gefallen, einer ist Arzt geworden, der Rose ist auch durchgekommen und der Kilius.
Ach zwei die hätten es wirklich verdient, die kamen von kleinen Leuten, wie man so sagt und die waren so fleißig und die haben doch gewusst, nächsten Monat geht der Krieg los, so ungefähr. Das war 13. Februar. 13. Februar war Schluss. Die haben ja gewusst, hätten sie denen doch das Zeugnis gegeben. Da sind die deprimiert weg und haben gedacht, jetzt ist mein Leben weg, das was ich machen möchte, das kann ich nicht, aber das wäre auch Unsinn, wenn sie es durchgestanden hätten, hätten sie es noch mal gemacht. Aber die Armen haben es nicht noch mal gemacht, die sind gleich gefallen. Jetzt tue ich das mal weg, das ist das einzige Bild, das ich habe – ja, 39, was steht da noch?
(Türklingeln) Ach, jetzt kommt ... jetzt kommt die und macht meine Zehen: Ich komme! - Sehen Sie wie ich aufstehen muss, das dauert auch seine Zeit, da muss man auch Geduld haben bis ich endlich mal da bin, ooooch … Das ist aber nett, ist das Steffi?"
"Ich bin die Nadja."
"Die Nadja. Sie wollen meine Zehen verbinden. – Hmmm. Haben Sie alle Verbandssachen?"
"Ja, das habe ich alles da liegen, damit Sie gleich sehen. Ich setze mich mal auf meinen, auf den Stuhl."
"Gucken Sie, 12 Uhr, wenn ich jetzt um 12 Uhr Essen bestellt hätte, käme jetzt auch noch das Essen, das ist doch auch nicht ... ne. Entweder wird das Essen kalt, oder… Ach so, meine Schuhe ziehe ich mal aus."
"Haben Sie Strumpfhose an?"
"Nein, ach Gott gar keine. - Das brauche ich nicht. – Das ist aber der Zeh … also, das ist doch jetzt gut um 12 Uhr, kann ich hinterher essen." (Sprühgeräusche)
Nach knapp zehn Minuten ist dann alles vorbei. Die Füße sind versorgt, die Fußpflegerin geht.
"Sind Sie schon fertig? Danke! Darf ich mal fragen, wie es morgen ist?"
"Morgen komme ich nicht. – Nein. – Ich komme Mittwoch ... Montag, Mittwoch, Freitag."
"Und Sie sind die Steffi?"
"Nein, ich bin die Nadja."
"Also, Sie kommen übermorgen?"
"Ja, ich denke, wenn die Chefin es so einträgt."
"Heute ist Mittwoch?"
"Heute ist Mittwoch."
"Dann muss ich wieder fragen. Sind Sie Steffi?´"
"Nein, ich bin Nadine … Nadja. – Nadja. - Nadja! - Tschüß."
"Tschüß. – Die sehen sich auch so ähnlich aus, haben die gleiche Uniform. Ist da ein Bleistift? Können Sie mal, wenn er noch geht. Ich muss mal den Namen aufschreiben, ist ja fürchterlich. Wo schreibe ich denn das hin? Da schreibe ich das hin: Nadja."
Nadja, Steffi – oder all die anderen: Mal kommt die eine, mal die andere. Sie kommen, weil auf ihrer Liste steht: Frau Refardt, Haus Vier. Sie kommen, weil sie hier eine Aufgabe zu erledigen haben. Keine der Schwestern, Putzfrauen und Einkaufshelferinnen nennt sie beim Vornamen. Für keine ist sie Rose.
"Wenn ich irgendeine schnelle Bewegung mache, bekomme ich Schwindel"
"Ach, meine Herren, gucken Sie mal, das mache ich am Tag zwanzig Mal … Neulich hat einer das Papier mit weggenommen, der hat aber alle meine anderen Sachen auch mit weggenommen, die gar nicht weg sollten …. Das habe ich da oben hingelegt, damit ich Bescheid weiß … Könnte mir ja eigentlich auch egal sein.
Wenn ich irgendeine schnelle Bewegung mache, da kriege ich Schwindel und dann kann ich hinknallen. Deshalb habe ich wirklich Angst alleine zu gehen, am liebsten würde ich das machen und selber einkaufen – Butter und was hat sie noch vergessen, Butter und ach Wurst, Würste, die Oetkerwurst da, ach ne die mit der Mühle. So jetzt lasse ich das mal stehen, das Buffet, Gott sei Danke haben wir das mitgenommen. Hier ist nichts sonst, Waschmaschine ist da. Küche ist immer gleich groß meine ich, aber es gibt auch Küchen, die kein Fenster haben, da unten die Frau aus dem Eichelgarten, Haus 1, kein Fenster, da ist das wie so ein Innenhof. Da muss man mit dem Fahrstuhl hochfahren, dann kann man runtergucken und ihre Küche hat kein Fenster, die kann nicht lüften.
(Topf klappert) Soll ich den wegschmeißen, vielleicht braucht man mal Wasser oder was. Aprikosen, die hätte ich hier rein tun sollen, aber es war so viel und ich hab nicht mehr dran gedacht. Kann auch jemandem Jüngeren passieren, das erste mal, man muss praktisch hier stehen bleiben, das ist diese Platte, die kann man nicht regulieren, die ist so heiß, wenn sie das ... sofort kocht es über. Und dann muss man da auch noch anmachen und außerdem gucken sie, ich kann meine Finger nicht kaputt machen, so furchtbar ist der Herd."
Die Aprikosen brennen im Topf an, sie kommt nicht mehr an die guten Gläser im Schrank. Ihr Körper ist zwölf Zentimeter geschrumpft. Auch die Handtücher im Bad liegen zu hoch. Es ist anstrengend, den Müll und das Altpapier zu entsorgen, und die Bettwäsche ist viel zu groß und zu schwer.
"Kann man Wäscherei Ilse anrufen. Die werden wegen zwei Laken doch keinen schicken … Dann bin ich eigentlich müde. Und dann setze ich mich da hin, jetzt will ich mich mal ausruhen nach dem Mittagessen – naja und dann setze ich mich hierhin in Ruhe. Und manchmal bin ich auch eingeschlafen und bin erst um Vier aufgewacht. Nee, von Zwei bis Vier. Naja, früher meine Großmutter, die hat jeden Nachmittag geschlafen, dann hat sie sich schön zu recht gemacht und ist ins Kurkonzert gegangen. Da haben wir in der Sophienstraße gewohnt. Ja die war Gott sei dank nie alleine. Die hat vier Kinder gehabt und alle haben sich um ihre Mutter gekümmert, da wir sie immer bei uns, wir hätten sie – das gab’s ja auch gar nicht, solche Häuser wie hier. Ich weiß nicht, vielleicht gab es auch schon so was. Aber das glaube ich nicht. Die schießen doch wie Pilze aus der Erde und machen auch so viel Reklame: Wir sind immer für sie da. Ich habe es neulich ausgeschnitten, wir sind immer für sie da. Das möchte ich mal gerne wissen, wo sie da sind! Immer."
(Vorhang) Sonne, die kommt nicht mehr … Komisch, immer ist dasselbe um diese Zeit, heute ist aber auch ganz wenig, gestern hatten wir noch, ganz gelb war das Gestern. Von hell bis dunkelgelb, das war sehr schön."
Sie hat eine Wetterstatistik im Kopf: Die Sonne ist an diesem Nachmittag früh weg. An sonnigen, klaren Tagen fallen die Strahlen um diese Zeit am rechten Rand durch das große Fenster. Sie treffen dann genau auf den schwarzen Flachbildfernseher, der wie ein Fremdkörper zwischen den alten, gepflegten Holzmöbeln steht.
"Und der Sonnenuntergang nachher - wunderbar"
"Um diese Zeit fängt es an, dass dann ein Wolkenband kommt. Meistens ist es nachher, dass die Sonne kapituliert. Und die Wolken ... und der Sonnenuntergang ist nachher, wenn es hell, wenn es klar bleibt wunderbar. Und sonst ist es hellgelb bis dunkelgelb, rote Streifen. Muss man immer gucken. Und hier kann ich gucken, ich guck' aber nicht so viel. Tennis, das Tennis hat mich sehr interessiert, unglaublich war das. Bavrinka heißt der, Stanislav, der ist aber in Lausanne geboren. Ein Schweizer. Und der hat, ich hab' den zum ersten Mal richtig gesehen, der hat alle besiegt. Den Federer besiegt und den anderen aus Serbien, der voriges Jahr das ganze Zeug gewonnen hat. Und schließlich und endlich den Nadal. Das hat mich sehr unterhalten die Woche ... Das war nicht nur eine Woche, das waren x-Wochen. (Klingt resigniert).
Ja, jetzt fehlt mir die Hildegard, die war eine so gütige und liebe Freundin, wenn die kam, die war so sanft, wissen Sie. Und hat wirklich mitgefühlt und 'wenn irgendwas ist, ich komme'. Und der ist es auch nicht leicht gefallen, aber die konnte noch gut laufen, ist in den Bus gestiegen und hier ausgestiegen. Und wenn sie zuhause war, dann hat sie angerufen 'Ich bin jetzt wieder Daheim'. Und dann war ich zufrieden, dass sie es geschafft hat. Ja, da habe ich erst gemerkt, wie einem das fehlt, wenn mein Mann nicht mehr da war, die Hildegard hat sich dann schon immer um mich gekümmert, weil sie das gewusst hat, die kannte ja auch meinen Mann.
Jemand Mitfühlendes oder mindestens eine, der das ernst nimmt. Viele nehmen auch die Krankheiten nicht ernst, gerade Depression, die kommen und sagen, ach das sind Einbildungen und so, das ist schrecklich dann, da werden die Menschen isoliert, dann haben sie Angst sich auszusprechen, nee. Und man findet ja nicht viele, die so lieb sind und das alles mit anhören (schnauft) ja das ist wahr."
(Ticken) – Das ist 'ne treue Uhr - (Ticken) - Also die Augengeschichte, da waren sie ja pünktlich, die sind nicht mehr so gut wie sie waren, die Augen. Aber das kann man ja auch verstehen ... Die Knie, Gelenke, das ganze Skelett ist verbogen ... Jetzt geht Licht, halb acht? Nein, viertel nach sieben, viertel nach sechs, draußen ist Licht, dann muss die nach Hause kommen, die Dame, die Tänzerin, ich sage immer, die war Ballett-Tänzerin, sage ich, so sieht sie aus … Die schwere Krankheit geht ja vom Rücken aus, das ganze Skelett ist gebogen ... Kein Busen mehr, nur hier der Bauch ist noch ein bisschen da und sonst bin ich ganz dürr. Jetzt ist jemand vorbei gegangen. Hier auch, ein richtiges Knochenskelett. Noch mal, jetzt da lang. Das war jemand von hier mit weißen Haaren, viele gehen ja auch spazieren, die wollen Luft schnappen und wollen nicht nass werden und machen die Runde so überall, hier kann man ja überall rumlaufen, statt ins Wörth-Böschel, gehen sie hier spazieren."
Die Freunde - immer weniger. Der Radius - immer kleiner. Da ist die Wohnung, der Hausflur, die Nachbarin, die kommt und geht, und von der sie nicht einmal den Namen kennt. Das Personal, das Telefon und der Fernseher sind ihre Verbindung zur Welt.
"Acht Uhr zwanzig oder so was kommen Nachrichten, da will ich aufbleiben. Und dann ist was Interessantes oder ich möchte was fertig lesen und dann ist es im nu elf Uhr. Und bis ich wieder im Bett bin, waschen, Zähne putzen und die Strümpfe da ausziehen und wieder neu was reinstecken. Dann ist es Zwölf. Und plötzlich abends geht das so schnell. Ich mache mir mein Abendessen, dann setze ich mich dahinten hin – kann Fernsehen – ja. Und dann ist der Tag zu Ende – nee.
(Aufstehen) Ach, nee, da sollen Sie mal gucken, ob ich als Vergnügen hier oben esse oder nicht. Aus reiner Notlage ist das. Da bin ich ganz steif und muss mich hier erst mal halten, machen wir hier mal Licht. Ach ... das andere mache ich nachher ... Ich schöpfe Atem … (Hantieren)"
Die Sonne ist untergegangen. Die Stehlampe neben dem Sofa wirft ein diffuses Licht auf den Couchtisch.
"Abends mache ich die Küchentür hier zu und den Vorhang vor. Dann kann ich immer sehen wer da rumläuft aber wer es ist, weiß ich nicht. Aber ich sehe es. Aber sonst bin ich ja wirklich ganz alleine. Ich weiß nicht, wer da Luft schnappt, aber ich weiß, dass viele da rumlaufen, manche gucken auch nach, wo die Leute wohnen und wie sie heißen und so weiter. Der wechselt ja auch sehr oft, der Wechsel ist auch häufig, entweder weil die Leute sterben und viele Leute, die ich mal im Fahrstuhl gesehen habe, ja im Fahrstuhl, die sind gar nicht mehr da. Die sind entweder gestorben oder die kennt man ja auch gar nicht. Haus Eins ist da ganz hinten, Haus Zwei da. Ohhhhh ...
(Rollator Geräusch) Da habe ich immer Angst, sage ich mir Vorsicht! Bloß nicht hinfallen. Nachts um zwölf guckt kein Mensch mehr, da liege ich dann. … Ich mache jetzt hier mal ein bisschen zu, hier können sie uns ja sehen. (Geräusch Vorhang) Die ganzen Jahre früher hatte ich immer Blumen auf dem Balkon, mache ich auch nicht mehr. Ich habe nur diese hier, so eine möchte ich noch mal haben, weil ich so eine hübsche Vase habe wo die gerade reinpasst (Geräusch Vorhang).
Ich denke, es ist wie bei einer Pflanze. Die hatte auch ihre Blütezeit und dann geht es zu Ende. Also ich habe keine Angst vor dem Sterben, kann ich nicht sagen, wenn es sein soll, dann ist es so. Also ich bin eigentlich jetzt so weit, dass ich ... - also erstens bin ich so alt und habe sehr viel erlebt und bin eigentlich zufrieden und habe keine Sorgen, geldlich oder was. Ich könnte schöne Sachen machen, kann ich aber nicht mehr. (Lacht etwas.) Naja, man soll froh sein, wenn man einigermaßen noch krabbeln kann und gesund, gesund in Anführungsstrichen ist. Aber mehr kann man nicht verlangen. Ist eigentlich schade, dass das so eingerichtet ist – vom Schöpfer. "
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