Leandra Overmann knallt alle ab

Von Frieder Reininghaus · 29.01.2011
Als "Aus Deutschland" im Mai 1981 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt wurde, war niemand so recht begeistert. Deutlich wurde, dass es in diesem Werk um die Fortschreibung und Neudeutung der großen deutschen Klavierliedertradition ging. Calixto Bieito nutzt das Stück für eine trashig aufgemöbelte Szenenfolge.
Fünf Giebelhäuschen erfüllen die Bühne des Freiburger Theaters. Rebecca Ringst hat sie mit Glühbirnengirlanden versehen lassen, wie dies an den Marktplätzen von süddeutschen Kleinstädten der Brauch ist: vorweihnachtlich illuminierte Idylle.

Dem Leiermann, der von Wilhelm Müllers und Franz Schuberts "Winterreise" her noch ein Begriff sein mag, setzten die ausgiebig heulenden Hunde des Liederzyklus zu. Schwarzwaldmädel gehen auf den Balkonen in Stellung als Drohung und Verheißung zugleich. Irgendwie also wird hier "Romantik" verhandelt und verschandelt. Goethes Ruh’ ist hör- und sichtbar dahin. Neal Schwantes, der Darsteller des Dichterfürsten, schlägt ein paar Füllungen aus den Fachwerkrahmen.

Mauricio Kagels Liederoper eröffnet nicht nur den Erinnerungen an den Weimarer Geheimrat Auftrittsmöglichkeiten, sondern auch dem sexuell frustrierten Schubert ("Du holde Kunst") oder Heines "Zwei Grenadieren" und der blond-weiblichen "Dichterliebe" ("Ich grolle nicht"). Chamissos "Kartenlegerin" kohabitiert mit Hölderlins "Hyperion" und noch einigen weiteren Figuren aus der Tiefe des deutschen Bildungsraums. Carl Loewes "Edward" demonstriert, in wie hohem Maß die Balladen des 19. Jahrhunderts allemal Opern im Westentaschenformat waren.

Als "Aus Deutschland" im Mai 1981 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt wurde, war niemand so recht begeistert. Joachim Kaiser rügte in der "Süddeutschen Zeitung" die triste Dominanz von Kagels Eindeutigkeit. Als dann aber 1997 Herbert Wernicke das Werk in Amsterdam in grandioser optischer Anspielung auf Caspar David Friedrichs Bild "Eismeer" präsentierte ("Die gescheiterte ‚Hoffnung’"), gewann die Kagelsche Theater-Musik einen tieferen Sog: Dutzende von Klavieren und Flügeln in unterschiedlichem Grad der Demontage türmen sich vom Parkett des Theatre Carrée bis hoch in den Bühnenhintergrund. Deutlich wurde, dass es mit diesem Werk von vorn bis hinten um Fortschreibung und Neudeutung der großen deutschen Klavierliedertradition ging, ums neuerliche Vermessen einer imposanten Klavierlandschaft.

Mit solcher Kunstsinnigkeit hat Calixto Bieito nichts am Hut. Er nutzt die kleingliedrige Szenenfolge in Freiburg für eine trashig aufgemöbelte Szenenfolge – konsequent kleingliedrig, zugleich in grobkörniger Weise mechanisch "lustig". Zum Kernbegriff Deutschland fällt dem katalanischen Regisseur außer der Kostümierung des Musikantenstadels nur ein kometenhaft aufsteigender und höllisch abstürzender Politiker ein, der als Parodie von Chaplins großem Diktator Hinkel grüßt und grüßen lässt. Auch ein Dutzend Gartenzwerge erhebt die rechten Arme zum Gruß. Einen trifft der Hammer der erdgöttlichen Leandra Overmann.

Fabrice Bollon sorgt für eine präzise Realisation der Klavierkammermusik im Graben und die Koordination mit dem charakteristischen Rezitieren auf der Bühne. Die Faktur der Musik kommt in einem relativ kleinen Haus wie dem an der Bertoldstraße vorteilhafter zur Wirkung als in so großen Hallen wie der Deutschen Oper Berlin oder dem Theatre Carrée in Amsterdam. Zumal, wenn der Zuschauerraum offensiv als Klangraum genutzt wird.

Die Nacht- und Todesverbundenheit der deutschen Romantik, die Kagels Liederoper beschwor, wird von Bieito in eine von Xavier Sabata exzessiv gestaltete Schreiorgie der Mignon überführt. Das "Nur wer die Sehnsucht kennt, fühlt, was ich leide" – Goethes großer Seufzer führt nicht zu stiller Introvertiertheit, sondern zur Explosion. Bieitos grelle Episodenfolge, in der die jeweiligen Akteure allemal einfach nur "dran sind", mündet mit einer gewissen Konsequenz im Amoklauf von Freiburg: Leandra Overmann knallt alle ab – zu den Titeln bekannter und vergessener, fortdauernd "gesund-morbider" und vergifteter Schubert-Lieder: "Leichenphantasie" und "Freiwilliges Versinken", "Letzte Hoffnung" und "Erstarrung".