Lawrence Block (Hg.): "Nighthawks"

Vom Gemälde zur Geschichte

Buchcover Lawrence Block (Hg): "Nighthawks. Stories nach Gemälden von Edward Hopper"
Der Band versammelt u.a. Geschichten von Stephen King, Lee Child und Jeffery Deaver. © Droemer Verlag / dpa
Von Anne Kohlick · 08.01.2018
17 amerikanische Schriftsteller haben sich von Werken des Malers Edward Hopper zu Kurzgeschichten inspirieren lassen. Der Band "Nighthawks" versammelt sie und ist ein Hochgenuss für Kunst- wie für Krimi-Liebhaber.
Die Frau am Fenster trägt nichts außer schwarzer Schuhe. Gedankenverloren schaut sie hinaus, das lange braune Haar verdeckt ihr Gesicht. Ihre weiße Haut hebt sich ab vom dunkelblauen Polster des Sessels, auf dem sie sitzt. Sie wirkt einsam, so als würde sie auf jemanden warten. Oder auf etwas? Aber was könnte das sein? Wer ist diese Frau, die Edward Hopper 1926 auf seinem Gemälde "Eleven A.M." malte?
Eine Antwort erfindet die Autorin Joyce Carol Oates in ihrer Kurzgeschichte "Die Frau am Fenster", die zusammen mit 16 anderen Stories nach Gemälden von Hopper im Sammelband "Nighthawks" erschienen ist. Die Frau, die auch in Oates‘ Geschichte namenlos bleibt, ist die Geliebte eines verheirateten Mannes. Er zahlt den Großteil der Miete ihrer New Yorker Wohnung. Doch die Liebe zwischen den beiden könnte jederzeit in Hass umschlagen. Er versetzt sie immer wieder, lässt sie warten, will sich nicht von seiner Ehefrau trennen. Sie versteckt unter dem Sitzkissen des Sessels eine Nähschere. Was wird damit bei seinem nächsten Besuch passieren?

Geschichten von Stephen King, Lee Child, Jeffery Deaver

Die Idee zu diesem Buch, das Kunst- und Krimiliebhaber gleichermaßen begeistern wird, hatte Lawrence Block. Der 1938 geborene Autor, der schon mehr als 50 Romane geschrieben hat, outet sich im Vorwort als Hopper-Fan. Für seinen Kurzgeschichten-Band konnte er die ganz großen Namen unter seinen US-Autoren-Kollegen im Krimi-, Thriller- und Horror-Genre gewinnen: Mit dabei sind Stephen King, Lee Child, Jeffery Deaver und Michael Connelly.
Vor jeder Kurzgeschichte ist in "Nighthawks" das Bild abgedruckt, auf das sich der Text bezieht. Die hochwertigen Abbildungen sind eine Einladung an die Leser, sich selbst Gedanken zu machen: Was für eine Geschichte sehe ich in diesem Bild? Bevor man dann gespannt anfängt zu lesen, welche Handlung der jeweilige Autor aus dem Kunstwerk entwickelt hat.
Auch wenn man mehrere der Geschichten direkt nacheinander liest, wird der Band nicht langweilig. Denn die Schriftsteller machen die Gemälde auf beeindruckend vielfältige Weise zum Thema: Megan Abbott erzählt von einem Maler, der an einem Bild arbeitet, für das seine Frau Modell steht. Michael Connelly schickt seinen Detective Harry Bosch in Chicago ins Museum, wo er eine junge Frau beschattet, die in Hoppers berühmte "Nighthawks" vertieft ist. Und Jeffery Deaver macht aus der Kunst-Postkarte eines späten Hopper-Gemäldes den Geheimcode seiner Agenten-Geschichte aus dem Kalten Krieg.

Spannend und geheimnisvoll

Alle Bilder von Edward Hopper verbindet eine ganz besondere Stimmung: eine Mischung aus Einsamkeit und Melancholie, gepaart mit einer gewissen Härte und Strenge. Sie sind still, aber voller Spannung – wie Standbilder aus Filmen, nur dass bei Hopper das Davor und das Danach der Handlung verborgen bleiben. Mit ihrer rätselhaften Ausstrahlung haben Hoppers Gemälde schon viele Künstler anderer Gattungen inspiriert. Alfred Hitchcock zum Beispiel nahm für das gruselige Motel in seinem Kultfilm "Psycho" Hoppers Gemälde "House by the Railroad" von 1925 zum Vorbild.
Zuletzt inspirierte Edward Hopper den norwegischen Autor Frode Grytten 2009 zu seinem Buch "Eine Frau in der Sonne". Der Band versammelt zehn Liebesgeschichten – jede inspiriert von einem Hopper-Gemälde. Teilweise nimmt sich Grytten dieselben Gemälde vor, die auch in "Nighthawks" als Ausgangspunkt dienen, etwa "Room in New York" von 1932. Der Norweger macht aus der Interieurszene, in der ein Mann Zeitung liest und eine Frau am Klavier sitzt, allerdings etwas ganz anderes als Stephen King: Wo der eine das Zerbrechen einer Beziehung sieht, erzählt der andere, wie ein Paar in der Weltwirtschaftskrise kaltblütig mordend an Geld kommt.
Ein Bild, unendlich viele mögliche Geschichten: Das erzählerische Potenzial von Hoppers Gemälden zeigt "Nighthawks" aufs Schönste. Der Band ist mit seinen spannenden, abwechslungsreichen Stories zu geheimnisvollen Bildern ein Hochgenuss – für Kunst- wie für Krimi-Liebhaber.

"Nighthawks. Stories nach Gemälden von Edward Hopper"
Herausgegeben von Lawrence Block
Übersetzt von Frauke Czwikla
Droemer Verlag, 320 Seiten, 29,99 Euro

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